Der erste Morgen im Land der Luchspfoten und der Wikingersagen beginnt mit Sand. Sand zwischen den Zähnen, im Schlafsack und in den Haaren. Zelten am Strand ist nur halb so romantisch, wie es die Fotos der Travel-Influencer auf Pinterest und Instagram gerne versprechen. Denn ein Zelt mag wasserdicht sein, aber sobald Wind dazu kommt, ist der Sand überall. Und windig ist es auf den zerklüfteten Inseln ganz im Norden Europas eigentlich immer. Wild sind sie, die Lofoten. Das Wetter ist launenhaft, das Nordmeer oft grau und aufgepeitscht vom Wind, der durch die Täler pfeift und sich von den steilen Wänden der Fjorde hinab zum Meer stürzt.
Der Name „Lofoten“ bedeutet „Luchsfuß“ oder „Luchspfote ,vom altnorwegischen „ló“ für „Luchs“ und „foten“ für „Fuß“. Die Inselgruppe ist in jeder Hinsicht etwas Besonderes. In der nordischen Mythologie als „Inseln der Götter“ bekannt, gehört sie heute zu den nördlichsten bewohnten Regionen der Erde. Obwohl die Lofoten eine lange Siedlungsgeschichte haben, sind viele Buchten und Täler, wenn überhaupt, nur zu Fuß oder mit dem Boot zu erreichen. Oft ist der Weg wegen unruhiger See und steilen Felswänden trotzdem umständlich oder gefährlich. Mit umso spektakuläreren Aussichten belohnt die Natur dafür diejenigen, die diese strapaziösen Wege auf sich nehmen: denn obwohl die Inseln ein beliebtes Ziel von Touristen sind und es zahlreiche geführte Wander- und Paddel-Touren gibt, hat man die Natur abseits der Hotspots schnell für sich alleine. Auf den Lofoten gilt, wie in ganz Skandinavien, das Jedermannsrecht: Campen ist überall dort erlaubt, wo niemand gestört wird und das Land nicht in Privatbesitz ist.
Über die Inselkette führt heute die Europastraße E10. Wie eine Perlenkette verbindet sie die größten der 80 Inseln, die den Lofoten-Archipel bilden. Erster Stopp ist das Örtchen „Fredvang“ auf der Insel „Moskenesøya“ im Süden der Inselgruppe. Das Wetter auf den Lofoten ist wechselhaft und kaum vorhersehbar. Von Fredvang aus kann man je nach Wetterlage entweder einen geschützten Fjord erkunden, oder die Westküste der Insel entlangpaddeln.
An Ende der Europastraße, ganz im Süden der Inselkette liegt das Örtchen „Å i Lofoten“ oder kurz einfach nur „Å“. Die Ortschaft mit gerade einmal hundert Einwohner_innen liegt auf einer Landbrücke, eingeklemmt zwischen dem Meer und einem See, der sich hinter der Ortschaft in ein Tal hineinzieht. Wie die meisten Siedlungen auf den Lofoten, liegt Å an der windgeschützten Ostseite der Inselkette. Die Natur in Å und entlang des Sees „Ågvatnet“ ist nordisch, aber lieblich: Bäume, Büsche und alle möglichen Blumen wechseln sich ab. An den Ufern des Sees sein Zelt aufzuschlagen, ist deutlich gemütlicher als an der windigen Küste. Hier gibt es keinen Sand, der sich nachts den Weg in den Schlafsack bahnt. Dafür fehlt aber auch der Wind, der an der Küste die Mücken verscheucht. Vom See Ågvatnet aus kann man einem steilen Wanderweg folgen, einen Bergrücken überqueren und zu einer Bucht absteigen. Das Land ist hier nur wenige Kilometer breit – von Küste zu Küste ist es gerade mal ein Tagesmarsch.
Die Bergrücken der Lofoten, die die West- und Ostküsten der Inseln voneinander trennen, erheben sich wie der Rücken einer jahrtausendealten Riesenschlange aus dem Nordmeer. Das Gestein der Lofoten-Berge gehört mit drei Milliarden Jahren zu den ältesten Zeugnissen der frühen Erdgeschichte. Dagegen sind die Alpen mit gerade einmal 100 Millionen Jahren noch Kinder. Die scharfkantigen Gipfel und ihre steil abfallenden Wände sind charakteristisch für den Lofoten-Archipel. Sie entstanden unter anderem in der letzten Eiszeit. Während großflächige Gletscher den Rest Skandinaviens abschliffen und das Land flacher und ebenmäßiger werden ließen, gab es auf den Lofoten nur kleine lokale Gletscher. Sie schnitten scharfkantige Stücke aus den Felsen und hinterließen eine Landschaft, die im Morgennebel an schlafende Drachen erinnert.
Wenn man nach einer steilen Kletterpartie die Westseite des Bergrückens bei Å erreicht, wird schnell klar, warum die meisten Siedlungen der Lofoten an der Ostküste liegen: Die Berghänge hier sind steil und einem scharfen Wind ausgesetzt. Statt Blumen und Bäumen, wachsen hier vor allem Moose, Flechten und Blaubeeren. Die kann man beim steilen Abstieg in Richtung Strand immerhin pflücken und essen. Das Tal ist im Juli nicht nur dem Wind, sondern auch der Sonne ausgesetzt und dementsprechend trocken. Mehrere Bachläufe sind jetzt im Hochsommer ausgetrocknet, es gibt kaum noch Schneereste, die sie speisen könnten. Auf dem Weg Richtung Strand stellt sich unweigerlich die Frage: Was, wenn es auf dieser Seite des Berges kein fließendes Wasser gibt? Erst am Strand wird die bange Frage aufgelöst. Aus einem Geröllband heraus bahnen sich ein paar schmale Bächlein kristallklaren Wassers ihrem Weg Richtung Meer. Die letzten Reste des Schmelzwassers scheinen an den Hängen zu versickern und kommen erst kurz vor dem Meer wieder an die Oberfläche.
Ziel der Wanderung ist eine kleine Bucht mit einem menschenleeren weißen Sandstrand. Im Windschatten großer Felsblöcke kann man sein Zelt beinahe in der donnernden Brandung aufschlagen – in der Hoffnung, dass so nicht ganz so viel Sand im Schlafsack landet. Vom 18. Mai bis zum 15. Juli geht die Sonne auf den Lofoten gar nicht unter, es ist die Zeit der Mitternachtssonne. Auch in den Wochen danach sind die Tage lang und in den kurzen Nächten geht die Abenddämmerung in den Sonnenaufgang über. Egal, ob die Bergrücken der Lofoten grau durch den Morgennebel schimmern oder bei Sonnenuntergang feuerrot erscheinen – in diesem magischen Licht will man fast glauben, dass hier wirklich schlafende Drachen im Nordmeer versunken sind.