Warum Gefühle kein Geschlecht haben

Unsere Redakteurin Luna Levay hat sich ein paar Gedanken dazu gemacht, wie das vorherrschende, heteronormative Rollenbild unsere Gefühlswelt prägt.

Er ist verzweifelt. So gern würde er jetzt einfach weinen. Doch er kann nicht. Schon als Kind wurde es ihm verboten. „Sei ein Mann. Sei stark“, mahnte ihn sein Vater stets, wenn ihm die Tränen in die Augen stiegen. So schluckte er sie Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr hinunter. Sperrte sie weg an einen Ort, tief in seinem Inneren, an den niemand gelangen konnte. Mit den Jahren wurde er besser darin, Traurigkeit zu ertragen, ohne sie physisch auszudrücken. So ging es ihm mit vielen Gefühlen. Wenn er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, sperrte er sie weg. Er wurde stark. Männlich. Unerschütterlich.

Komm, sei ein Mann!

Als er in die Pubertät kam, gesellte sich noch ein neues Gefühl hinzu. Es war eine Wut, die so unaussprechlich stark war, dass er nicht wusste, wohin mit ihr. Sie schien ihn in manchen Momenten verschlingen zu wollen. Sie überschwemmte ihn und ertränkte alle anderen Gefühle. Das Komischste war jedoch, dass ihn in diesem Gefühl alle bestätigten: „Du bist wütend? Dann komm, schlag zu!“, „Ha, traust du dich nicht?“, „Komm, sei ein Mann – Verprügle ihn!“. Er verstand es nicht. Wieso sollte er ein Gefühl ausleben, das andere körperlich und seelisch verletzte, doch durfte gleichzeitig nicht zeigen, dass er selbst verletzt war?

Absurd, oder?

Wenn man genauer darüber nachdenkt, findet die gängige Aussage, Männer dürften ihre Gefühle nicht zeigen, wenn sie echte Männer sein wollen, auch in konservativen und auf heteronormativen Rollenbildern bestehenden Kreisen keine akkurate Anwendung. Denn es sind nicht alle Gefühle unmännlich. Wie in der vorangegangenen Anekdote aufgezeigt, ist Wut ein sehr willkommenes Gefühl, das bei jungen Männern gern gefördert wird. Ebenso die damit einhergehenden Eigenschaften Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Ehrgeiz und eiskaltes Kalkül sind ebenfalls Eigenschaften, die an Männern sehr geschätzt werden. Bei Frauen ist das eher schwierig. Diese sollten den weichen, weiblich codierten Part der Gefühle und Eigenschaften übernehmen. Trauer und Angst sind Gefühle, die Frauen haben dürfen – ja, sogar haben sollen. Damit verbunden sind Eigenschaften wie Zurückhaltung, Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme. Auch Mutterinstinkte sind bei Frauen gern gesehen. Aber das Beschützen wird dann doch besser dem starken Mann überlassen. Denn der ist ja dafür geschaffen, für Recht und Ordnung innerhalb der Familie und deren Schutz nach außen zu sorgen.

Jeder Mensch fühlt, egal welchem Geschlecht zugehörig.

Was ich hier gemacht habe, mag auf die Leser:innen wie eine wilde und willkürliche Assoziation von Gefühlen, Eigenschaften und sexistischen Zuordnungen wirken. Denn genau das ist es auch. Das ist, was mir durch den Kopf geht, wenn ich daran denke, welche Verhaltensweisen und Zuschreibungen ich für Frauen und Männer von Kindheit an gelernt habe – durch Bücher, Zeitungen, Filme, in der Schule und im Kontakt mit diversen Personen. Dass ich mich aus diesen binären Konstrukten mit ihren festgezurrten Genderrollen weitestgehend befreien konnte, hat eine Zeitlang gedauert. Denn was man über so viele Jahre hinweg ständig vorgesagt und vorgelebt bekommt, ist schwer in ein anderes Licht zu rücken und zu hinterfragen. Es verunsichert, aber es ist wichtig. Es ist wichtig, zu reflektieren, weshalb wir gewisse Bilder von Geschlechtern haben. Warum viele Menschen denken, es gäbe nur zwei davon. Warum man Gefühle und Eigenschaften zwischen ihnen aufteilt wie Kinder Murmeln beim Spielen auf der Straße. Jeder Mensch fühlt, egal welchem Geschlecht zugehörig. Und alle fühlen anders und doch bedienen wir uns desselben Spektrums an Gefühlen – genderunabhängig.

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