Die stille Stunde
Vor einem Jahr wurde im E-Center Baur in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Autismus Konstanz e.V. die „Stille Stunde“ eingeführt. Diese Initiative zielt speziell darauf ab, Autist:innen und Menschen mit sensibler Wahrnehmung ein angenehmeres Einkaufserlebnis zu bieten. Während dieser wöchentlichen Veranstaltung, jeden Dienstag von 15 bis 17 Uhr, werden die Geräuschkulissen und Lichtquellen deutlich reduziert. Dies wirkt der Reizüberflutung entgegen. Es gibt keine lauten Piepstöne von Scannerkassen oder Hintergrundmusik im Geschäft. Durchsagen werden auf das Allernötigste beschränkt.
Misophonie beschreibt die allgemeine Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen. Betroffene reagieren auf bestimmte Trigger, die unterschiedlicher Natur sein können, wie zum Beispiel Schmatzen, Rascheln oder andere Umweltgeräusche. Zurzeit ist noch unbekannt, wie weit diese Lärmempfindlichkeit in der Bevölkerung verbreitet ist. Einige Studien schätzen, dass etwa 5 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. In Konstanz wären das circa 4250 Menschen.
Auch Menschen mit Autismus profitieren von der stillen Stunde. Ausschlaggebend für ihre Einführung im Edeka war der Netzwerk Autismus Konstanz e.V., die sogenannten Spektralkräfte. Auf ihrer Website sind nach einem Jahr verschiedene Stimmen zur stillen Stunde zu finden. Ein Mitglied berichtet, dass es sich vor der stillen Stunde nach dem Einkaufen stets für eine Stunde hinlegen musste, um sich von den Eindrücken zu erholen. Eine andere Stimme äußert, dass ihr eine Self-Checkout-Kasse mehr bringe, aber sie schätze es sehr, dass an sie gedacht werde.
Wie ist es, mit Misophonie zu leben?
Es ist ein sonniger Dienstag. Ich höre mit meinen Kopfhörern Musik, während ich mit dem Fahrrad von der Universität zum Edeka an der Reichenaustraße fahre. Vor dem Geschäft treffe ich Marie (Name von der Redaktion geändert). „Manchmal bin ich sehr lärmempfindlich“, erzählt sie mir, „es gibt Tage, da ist es mir selbst in der Bib zu laut, da stört mich dann jedes Rascheln. An anderen Tagen wiederum stört mich gar nichts.“
Sie zuckt mit den Achseln. „Ich habe etwas gebraucht, um mir einzugestehen, dass das okay ist. Es gibt viele, die sinngemäß zu mir sagen: ‚Jetzt stell‘ dich doch nicht so an, da ist doch gar nichts’. Aber ich kann ja auch nichts dafür.“
Ich frage Marie, wie sie beim Einkaufen vorgegangen ist und was die stille Stunde für sie bedeutet? „Einkaufen war okay, ich muss es ja machen. Ein bisschen stressig war es für mich aber schon, wenn da eine Durchsage kam oder eine laute Familie losgelegt hat, bin ich halt erschrocken. Mit der stillen Stunde ist es etwas einfacher.“
Ein Selbstversuch
Nun möchte ich es selbst wissen: Wie fühlt es sich an, ohne jegliche Ablenkung einkaufen zu gehen? Ich habe gelesen, dass sich schon Leute beschwert hätten, es wäre zu dunkel. Würde ich mich hier zurechtfinden?
Ich betrete den Edeka und fühle mich wie in einer Kirche. Die Atmosphäre ist auf eine merkwürdige Art andächtig. Es ist dunkler als normal, nur das Licht aus dem Kühlregal strahlt im Kontrast auffallend hell. Es ist überwiegend leise. Manchmal hört man Menschen reden, aber viele scheinen ebenfalls die Stimmung aufzunehmen und zu flüstern statt wie gewohnt lauter zu reden.
Ganz achtsam mache ich meinen Einkauf, nichts lenkt mich ab. Am Ende muss ich noch Tofu kaufen, aber ich weiß nicht genau, wo ich ihn finden kann. Ich suche das Geschäft ab und bin überrascht, dass ich nicht genervt oder aufgeregt, sondern völlig entspannt bin. Schließlich finde ich den Tofu im Eingangsbereich. Ich frage mich, ob ich mir nach dem Einkaufen etwas Süßes gönnen soll, wie ich es oft tue. Aber heute habe ich kein Bedürfnis danach. Stattdessen schaffe ich es, nur das zu kaufen, was auf meiner Liste steht, und gehe zur Kasse.
An der Kasse habe ich das Gefühl, dass der Kassierer auffallend freundlich ist. Vielleicht nehme ich es heute nur etwas aufmerksamer wahr als sonst, vielleicht ist er aber auch weniger gestresst oder gibt sich extra Mühe, da die Zielgruppe eine andere ist. Mein Eindruck ist, dass der Unterschied zum sonstigen Einkaufen spürbar und besonders ist. Das zeigt mir vor allem, dass sonst eine Ablenkung da ist, die als so selbstverständlich angenommen wird, dass sie mir zuvor gar nicht aufgefallen war.
Nachdenklich schwinge ich mich mit meinen Einkäufen auf das Fahrrad und setze die Kopfhörer auf. Vielleicht ist leises Einkaufen nicht nur etwas für geräuschempfindliche Menschen oder Menschen mit Autismus, vielleicht tut es uns allen gut. Und möglicherweise nicht nur beim Einkaufen. Wir sind sehr viele Reizeinflüsse gewohnt und weniger Unterhaltung kann im Kontrast als „langweilig“ erscheinen. Es wäre allerdings möglich, dass wir unbewusst schneller gestresst sind. Ich nehme mir vor, öfter Musik zu hören oder Rad zu fahren – aber vielleicht nicht beides gleichzeitig.