Einem -Ismus auf der Spur: Analphabetismus

Sich täglich auf WhatsApp mit Freund:innen austauschen, für den Uni-Alltag eine „To-Do-Liste“ über das Bett klemmen oder in der Schule dem Schwarm einen Liebesbrief zukommen lassen – für Analphabet:innen ist das fast unmöglich, oder mit großer Anstrengung verbunden. Menschen mit Analphabetismus haben Probleme beim Lesen und Schreiben, sie können sich oft nicht so ausdrücken, wie es uns soziale Kontexte oder Rechtschreibregeln vorgeben.

Zahlen und Fakten über Analphabetismus

2018 waren in Deutschland nach einer Studie der Universität Hamburg ca. vier Prozent bzw. zwei Millionen der 18 bis 65-Jährigen „totale“, und insgesamt 12,1 Prozent bzw. 6,2 Millionen „funktionale Analphabet:innen“.1 Funktionaler Analphabetismus, auch Illettrismus genannt, bezeichnet das Unvermögen, die Schrift im alltäglichen Leben so zu gebrauchen, wie es im gesellschaftlichen Kontext als selbstverständlich angesehen wird. Betroffene Personen können Buchstaben erkennen, einzelne Worte oder ihren Namen schreiben und manchmal auch kurze Sätze lesen. Den Sinn eines etwas längeren Textes zu verstehen, gelingt ihnen jedoch häufig gar nicht, oder erst nach mühevollen Anstrengungen, die jeden praktischen Nutzen unmöglich machen.
Es gibt drei weitere Arten von Analphabetismus: Primäre Analphabet:innen haben nie lesen und schreiben gelernt. Sekundäre Analphabet:innen haben das zuvor gelernte Lesen und Schreiben wieder verlernt. Semi-Analphabet:innen können lesen, aber nicht schreiben.

Buchstaben können verwirrend sein und daran ist nichts verwerfliches!

Ursachen und Vorurteile

Funktionaler Analphabetismus entsteht oft durch ein Zusammenspiel vieler individueller Faktoren. Kontexte wie das familiäre Umfeld, die Schule oder Gesellschaft können eine Rolle spielen. Oft wachsen Analphabet:innen in einem schriftfremden Umfeld auf, wo auch die Elternteile kaum oder gar nicht lesen und schreiben können. Fehlende Vorbilder, die den Umgang mit Texten vorleben und auch fehlende Möglichkeiten, wie nicht vorhandene Bücher im Haushalt sind die Folge. Kinder, die von Anfang an spielerisch an das Lesen und Schreiben herangeführt werden, entwickeln Gewohnheiten, bei welchen sie ihr neuerlerntes Können vertiefen. Zusätzlich haben sie es im Unterricht leichter, durch mehr Übung und Verständnis. Häufig werden Betroffene jedoch mit schnell geformten Vorurteilen konfrontiert – allen voran fehlende Intelligenz oder auch fehlende Ausbildung ihrerseits. Jede:r zweite funktionale Analphabet:in hat Deutsch als Muttersprache, der Großteil einen Schulabschluss und mehr als die Hälfte einen Job.

Hilfsprogramme an Schulen und Hochschulen

Das Angebot ist mager. Schüler:innen sollten bis zur dritten Klasse das Lesen und Schreiben beherrschen, ab diesem Zeitpunkt beginnt mit Diktaten und laut Vorlesen eine Tortur für Analphabet:innen. Neben häufigen in Außenseitertum endenden Schikanen von Gleichaltrigen wissen viele Lehrer:innen nicht, wie sie helfen können. Fehlende Aus- oder Weiterbildung der Lehrpersonen, vor allem in der Sekundarstufe seien ein großes Problem, meint Alphabetisierungs-Expertin Cordula Löffler in der „Süddeutschen Zeitung“.2 Wenn nun also Kinder mit Schreib- und Leseproblemen in die Sekundarstufe versetzt würden, wo zusätzlich kaum Zeit für persönlichen Kontakt oder individuelle Förderung gefunden werde, könne ihnen nur noch schwer geholfen werden. Mit mehr Geduld, individueller Unterstützung und einem freieren Bildungssystem, welches kulanter mit Stufen-Wiederholenden umgeht, ließe sich das Problem also wortwörtlich schon in den Kinderschuhen beheben. Stattdessen müssen Analphabet:innen lernen, mit ihrer Einschränkung zu leben und einen Alltag zu meistern, in dem sie konfrontiert werden mit Hindernissen, die für die meisten Nicht-Betroffenen unvorstellbar sind.

Für manche ist Lesen ein magisches Erlebnis, für andere fühlt es sich so an, als würde einen die Welt der Buchstaben verschlucken.

Hier an der Universität Konstanz können sich Studierende bei der Hochschulgruppe „Tintenklecks e.V.“ ehrenamtlich engagieren, um sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen kostenlos Nachhilfe zu geben.3 Das Angebot richtet sich zwar nicht explizit an Analphabet:innen, ist aber eine gute, erste Anlaufstelle für Betroffene und Menschen, die behilflich sein möchten. Für Erwachsene mit Lese- und Schreibproblemen gibt es einige Ressourcen, die Unterstützung anbieten, zum Beispiel das „ALFA-Telefon4“ des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Mehr Informationen zu aktuellen Fortbildungsmöglichkeiten und Veranstaltungen zum Thema Analphabetismus sind auf der Website des Bundesverbands zu finden, unter

1 Grotlüschen, Anke; Buddeberg, Klaus; Dutz, Gregor; Heilmann, Lisanne; Stammer, Christopher: leo 2018 – Leben mit geringer Literalität. (PDF) In: blogs.epb.uni-hamburg.de.Universität Hamburg, 2019, S. 5, aufgerufen am 24.April 2022.

2 Steinbacher, R. (08.Januar 2013). Analphabetismus an Schulen: “Man kann sich durchmogeln”. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/bildung/analphabetismus-an-schulen-man-kann-sich-durchmogeln-1.1566695. aufgerufen am 24.April 2022.

3 Mehr Infos auf der Uni-Website

4 https://alfa-telefon.de/

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