Gruppe Menschen

Die Bio-Avokado als Frage der Moral

Der Bedeutungsverlust von Kirche und Ideologie haben eine Lücke aufgerissen, die die Moral jetzt schließen muss. Über das Zeitalter des Hypermoralismus.

Ist eine Bio-Avokado unsere Religion? Ein Veggy-Burger unsere Ideologie? Zumindest glauben viele mehr an die Nachhaltigkeit durch Fair-Trade-Gemüse als an Gerechtigkeit durch Religion oder eine perfekte Gesellschaft durch Ideologie. Ein Einkauf bei “Alnatura” ist ein gutes Beispiel, um zu sehen, wie wir Studenten, die sonst an allen Ecken und Enden sparen, sündhaft teure Sojamilch kaufen.

Wir, und damit meine ich die Generation, die mal Generation Y, mal Generation Z genannt wird, kennen doch Ideologie und Religion schon fast gar nicht mehr. Nach dem Kalten Krieg, dem Sieg der liberalen Demokratie und dem vermeintlichen Ende der Geschichte war Ideologie “out”. Wir haben aus den Katastrophen, die von ihr ausgingen, gelernt. Da war die Religion in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung schon auf ein Minimum herabgesunken. Und jetzt sind wir die erste Generation überhaupt, die ganz ohne normativen Überbau auskommt. Das denken wir zumindest. Traditionelle Moral gilt vielen schließlich als spießige Einengung und Ausdruck autoritärer und emanzipationsfeindlicher Machtstrukturen. Aber seien wir ehrlich, wer möchte denn schon ohne Moral leben?

Nur, woher kommt die Moral jetzt, wenn sie nicht vom Himmel fällt und nicht aus den Köpfen autoritärer Herrscher und missverstanden Denkern stammt?

Auch aus dem Bio-Supermarkt. Wir haben uns Ersatz geholt. Irgendetwas, das nicht im Verdacht steht uns etwas vorzuschreiben; wir wollen ja selbstbestimmt leben. Also die Bio-Avokado, also der Veggy-Burger. Bereiche, die zuvor nichts mit Moral zu tun hatten, sind jetzt moralisch aufgeladen. Die Moral erhält selbst eine eigene Bedeutung. Wir leben im Zeitalter des Hypermoralismus. Wurde Moral früher von einem wie auch immer gearteten Überbau, wie etwa Religion oder Ideologie, abgeleitet, ist sie jetzt selbst die unhinterfragbare Prämisse. Durch den Hypermoralismus ist die Moral so stark wie nie zuvor in unseren Alltag gedrungen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Posts
Lesen

„Ich hab‘ Angst vor dir (auch, wenn ich dich nicht kenne)“ – Die Sozialphobie im Porträt

„Ich habe ganz lange nicht wahrgenommen, dass die Gedanken und Ängste, die ich hatte, nicht ‚normal‘ waren. Ich war anfangs gar nicht wegen der Sozialphobie in Therapie, weil ich nicht wusste, dass ich diese überhaupt habe“, erzählt Nelly, eine Psychologiestudentin der Uni Konstanz, die unter anderem wegen einer sozialen Phobie in Therapie ist. Sie berichtet, wie sie soziale Angst erlebt und inwiefern psychotherapeutische Unterstützung ihr im Umgang mit dieser geholfen hat.
Die mobile Version verlassen