Buchreviews

„Power“ von Verena Günther

Ein Buch für kalte Schauer an heißen Sommertagen.

Der Hund der alten Frau Hirschke ist verschwunden. Der hinkenden Hirschke mit der kaputten Hüfte, für die sich im Dorf niemand interessiert. Dass ihr Ein und Alles, ihr kleiner Hund mit dem seltsamen Namen „Power“, nicht mehr da ist ist, kümmert hier in der Provinz niemanden. Außer Kerze. Gerade noch ein Kind, eigentlich mit Schule und Sommerferien beschäftigt, macht das Mädchen sich auf die Suche nach dem Hund der Nachbarin. Denn, wie Kerze zur Hirschke sagt: „Das geht nicht, das Power weg ist, wir beide wissen, dass das nicht geht.“ Und weil Kerze immer hält, was sie verspricht, wird sie Power finden. Koste es, was es wolle.

Autorin Verena Güntner folgt Kerzes Suche nach Power mit einer Sprache, die genauso stark, nüchtern und kraftvoll ist, wie Kerze selbst. Das Mädchen durchkämmt ihr Heimatdorf, das schon deutlich bessere Tage gesehen hat und schaut den teilnahmslosen Leuten scharf in die Augen. Die Sommerferien haben gerade erst angefangen und mitten auf dem Land gibt es besonders jetzt nicht viel zu tun. Immer mehr Kinder schließen sich Kerzes unerbittlichem Regiment und der Suche nach dem Hund der alten Hirschke an. Aber Power bleibt verschwunden.

Wer einen Hund finden will, muss denken und leben wie ein Hund, entscheidet Kerze. Also gehen die Kinder in den Wald. Sie verschwinden einfach aus dem Dorf, sogar ein Kleinkind nehmen sie mit. Das ist der Punkt, ab dem die Dorfbewohner_innen dem „Spiel“ der Kinder nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen. Panik macht sich breit, Abgründe tun sich auf. Allabendlich stehen die Eltern vor dem Wald und rufen nach ihren Kindern, aber die bleiben verschwunden. Angeführt von Kerze ziehen sie durch den Wald, immer mehr gleich einem Rudel Wölfe. Währenddessen schleichen ihre Eltern im Dorf in ähnlicher Wolfsmanier um das Haus der Hirschke herum und werfen Müll in den Garten. Schließlich ist es die Schuld der Alten, dass die Kinder verschwunden sind.

Verena Günters Geschichte entwickelt schnell einen unglaublichen Sog. Das Verschwinden der Kinder bringt die Lage im Dorf zum Eskalieren. Verborgene Aggressionen und Hoffnungslosigkeiten werden sichtbar. Die ungewöhnlichen Namen und surreale Motive verwischen die Grenzen zwischen Fantastik und Realismus. Irgendwo zwischen diesen Genregrenzen, zwischen der klaustrophobischen Spannung im Dorf und dem wilden Existenzialismus des Waldes, verhandelt Verena Güntner ganz grundlegende gesellschaftliche Fragen über Willensstärke und Hoffnungslosigkeit.

Man kann dieses Buch als Parabel auf die „Fridays-for-Future“-Bewegung lesen, als Anklageschrift gegen die Lethargie der Babyboomer oder als gnadenlose Bestandsaufnahme für die deutsche Provinz.

Eine eindeutige Antwort, wofür Powers seltsamer Name steht, bleibt die Autorin am Ende schuldig. Was vielleicht auch daran liegen mag, dass dieses Buch nicht dafür geschrieben wurde, um zu verstehen, sondern um zu fühlen: Kerzes unerbittliche Entschlossenheit, die einsame Hilflosigkeit der Hirschke und das ohnmächtige Unverständnis der Eltern. Jede_r Leser_in muss sich selbst auf die Suche nach Power machen.

Bild: Lena Auer.

„Das Glück meines Bruders“ – Stefan Ferdinand Etgeton

Was ist das – die Herkunft und die Familie? Was macht die Umgebung, in der man aufgewachsen ist, mit einem? Und wie findet man sein Glück? Anhand von zwei Geschwistern versucht der Roman „Das Glück meines Bruders“ diese Fragen zu beantworten.

Botho und Arno sind zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Botho als Ich-Erzähler hat das Abitur nachgemacht, ist studiert, gesund und nun Lehrer. Arno hingegen lebt von Hartz IV, kämpft sich von einem Job zum nächsten, leidet an Alkoholismus und hofft, in seiner Verlobten Anja eine Lösung für seine Probleme gefunden zu haben. Trotz dieser Unterschiede scheint die Beziehung der Brüder gut. Das kleine Dorf Doel in Belgien wird zum Mittelpunkt der Handlung. Hier, bei den Großeltern, verbrachten die beiden Sommer um Sommer, Weihnachten um Weihnachten. Als Kinder und Teenager glichen sie sich stark in Aussehen und Verhalten. Während einer Reise zurück in das Haus der nun toten Großeltern bahnt sich ein heftiger Konflikt zwischen den beiden an. Erinnerungen kommen wieder hervor, die die jetzige Beziehung der Brüder auf die Probe stellt.

Zwischen verlorenen Jugendlieben und neu gefundenen Bekanntschaften, zwischen Belgien und Deutschland, zwischen Akademikerleben und prekärer Jobsituation – zwischen all dem suchen beide nach dem Glück und nach ihrer Identität. Das erwartet die Leser_innen auf 240 Seiten, eingewoben in lange Gedankengänge Bothos und Dialoge. Vor allem erstere sind wirr und impulsiv, lassen einen nicht los, ein anderes Mal sind sie träge und stiften zum Nachdenken an. „Das Glück meines Bruders“ beleuchtet Lebenswege mit einer großen Ruhe und reflektierten Fragen und Ansichten – und lässt einen selbst über das Leben nachdenken.

Der Roman ist ein Fluss an immer folgenden Handlungen und Bothos Gedanken. Lediglich sind diese durch Kapitel unterteilt, die überflüssig scheinen, denn die Gedanken werden ohne Pause weitergesponnen. Einzelne Geschichten und Schicksalsschläge der Brüder möchte man gerne weiterverfolgen. Dabei stellt sich das Gefühl ein, dringend weiterlesen zu müssen. Die Sprache des Buches oszilliert zwischen dieser spannenden Einfachheit der Erzählung und verschachtelten, mühselig zu verfolgenden, jedoch intellektuell höchst tiefgreifenden Sätzen und Aussagen. Nichtsdestotrotz erreicht diese damit genau ihren Sinn: Die Sprache spiegelt den unterschiedlichen Wesenskern der beiden Brüder und ihre Lebenswege, die auf mangelnde Fundamente aus der Kindheit gebaut werden mussten. Ein eher anspruchsvolles Buch mit einer sehr interessanten Benutzung von Wörtern und Sprache.

Der Autor Etgeton weiß es, seine Leser_innen mit anspruchsvollen Satzkonstruktionen und einer ungewöhnlichen Kombination aus Wörter herauszufordern. Deshalb ist es ein Buch, welches nicht nur, aber ganz besonders, Sprachwissenschaftler_innen zu empfehlen ist.
Bild: Lena Auer.

„Terror“ – Ferdinand von Schirach

Das 2016 erschienene Buch „Terror“ von Ferdinand von Schirach ist ein modernes Drama. Die Bühne wird zum Gerichtssaal und das Publikum zu Schöffen. Ein Passagierflugzeug wird entführt und die Attentäter steuern es auf ein vollbesetztes Fußballstadion zu, mit der Intention, alle 70000 Stadionbesucher_innen, sowie die Insass_innen des Flugzeugs zu töten. Lars Koch, ein junger Luftwaffen-Major, schoss dieses Flugzeug ab, um Leben zu retten. Er widersetzte sich damit entgegen dem Befehl des Verteidigungsministers. Nun steht Koch vor Gericht und wird des Mordes an 164 Passagieren beschuldigt. Ist er der Mörder dieser Menschen? Oder war es richtig, diese zu opfern, um die Besucher_innen des Fußballspiels zu retten? Rechtfertigt die Rettung von 70000 Leben den Tod von 164 Menschen? Können Menschenleben gegeneinander abgewogen werden? Soll ein Leben genommen werden dürfen, um 700 zu retten? Wie steht es in einer solchen Situation um die Würde des Menschen? Wie viel ist sie wert? Und ist sie am Ende des Tages vielleicht doch antastbar?

Dieses Theaterstück von Ferdinand von Schirach wirft unzählige Fragen auf und regt zum Nachdenken an. Von Schirach hat damit ein Werk geschaffen, welches uns die Werte „richtig“ und „falsch“ hinterfragen und Zweifel am eigenen Urteilsvermögen, sowie den Kategorien „moralisch gut“ und „moralisch verwerflich“ laut werden lässt. Dieses Buch ist etwas für alle, die gerne über den Tellerrand blicken und sich mit philosophischen und ethischen Werten sowie Begriffen befassen wollen. Das Drama bereichert das Leben der Leser_innen in vielerlei Hinsicht. Eine Erkenntnis, die man während der Lektüre gewinnt, ist beispielsweise, dass es nicht „die richtige Seite“ gibt, für die man sich entscheiden kann, denn wie im echten Leben, ist auch dieser Fall nicht schwarz und weiß, sondern grau. Man wird dazu gezwungen, sich seine eigenen Gedanken zu machen und ein Urteil über den Angeklagten zu fällen, denn das Publikum entscheidet, ob Koch verurteilt oder freigesprochen wird.

Das Lesen dieses Buches führt dazu, das Rechtssystem zu hinterfragen, denn, wie der Autor fünf Jahre vor dem Erscheinen von „Terror“ in seinem Buch „Der Fall Collini“ schreibt: “Recht ist nicht immer gleich Gerechtigkeit“.

Es ist auf jeden Fall ein spannendes Buch und jede_r, der/die sich gerne mit abstrakten Themen, bezogen auf reale Sachverhalte befasst, tut gut daran, es zu lesen.
Am besten lesen es mindestens zwei Leute parallel, denn mich hat selten ein Buch so sehr zu Diskussionen angeregt, wie dieses und der Austausch darüber ist mindestens genauso spannend, wie die Lektüre des Dramas.
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