Diese größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg, laut Merkel, beinhaltet neue Regelungen und Einschränkungen: Wir sollen zu Hause bleiben. Wenn möglich, sollen Arbeitgeber_innen Homeoffice ermöglichen. Unsere Sozialkontakte müssen auf ein Minimum beschränkt werden, damit das Virus sich nicht weiter in Deutschland ausbreiten kann. Alles verständlich. Solidarität sei gefragt. Doch was bedeutet Solidarität überhaupt in diesem Zusammenhang?
Für ein Praktikum in einer mittelständischen Firma bin ich in eine hübsche Kleinstadt im südlichen Oberschwaben gezogen. Nur für ein halbes Jahr. Der Beginn meiner Arbeitszeit fällt ziemlich genau mit dem Beginn der Pandemie zusammen. Es ist Anfang März, die einzelnen Abteilungen der Firma gehen unterschiedlich mit dem neuen Kontaktverbot um: Manche sind komplett im Homeoffice, andere haben sich untereinander auf abwechselnde Homeoffice-Zeiten geeinigt. Ich komme noch jeden Tag. Als Praktikantin bin ich dazu angehalten, zu erscheinen. Mal abgesehen von den leeren Straßen, die am Anfang besonders morgens irritierten, suggeriert mir der regelmäßige Arbeitsrhythmus außerhalb meiner eigenen vier Wände ein Stück Normalität.
Die Normalität endet jedoch zumeist mit der Busfahrt. Jeden Tag pendle ich fast 50 Minuten von meinem neuen zu Hause hin zu meinem Arbeitsplatz. Mich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortzubewegen, bin ich gewohnt. Mein Praktikantengehalt reicht nicht für ein eigenes Auto, geschweige denn eine Wohnung in der Nähe meines Arbeitsplatzes. Ohne die Corona-Krise hätte ich mir darüber an sich auch keine Gedanken gemacht. Wie mir geht es vielen, die sich in Ausbildung oder Studium befinden. Doch die Krise zeigt, dass wir eben doch nicht alle gleich sind.
Die, die es sich leisten können, meiden inzwischen die öffentlichen Verkehrsmittel und fahren mit ihrem eigenen Auto. Vor allem am Anfang, als es so richtig losging mit den Hygiene-Warnungen und jeder Türgriff wie eine ernstzunehmende Bedrohung erschien, sprangen mir die roten „Stop“-Knöpfe im Bus ins Auge: „STOP! Fass mich bloß nicht an!“ Unbeholfen stülpte ich da noch meinen Pulli über die Hände und drückte so auf den rot-weißen Haltebutton. Anfang März waren die Busse schon leerer als sonst, aber teilweise saßen sogar noch zwei Menschen gemeinsam in einer Vierer-Sitzgelegenheit. Heute, einen Monat später, absolut undenkbar! Eine nette, ältere Dame begann zu diesem Zeitpunkt ein kurzes Small-Talk-Gespräch mit mir, wie verrückt die Situation momentan sei und schüttelte dabei den Kopf. Aber ich könne ja mal in meinem kleinen Notizbüchlein nachschauen, was es für Neuigkeiten gäbe, sagte sie und deutete auf mein Smartphone.
8:30 Uhr am Morgen, Ende März, Stadtmitte, Bushaltestelle. Ein Mann wackelt unbeholfen mit drei Paketen Klopapier über die Pflastersteine und ruft einem jüngeren Bekannten zu, dass dieser sich beeilen solle: „Ha ja! Kaum noch was da! Lauf schnell, es gibt nicht mehr viel!“ Verärgert denke ich, dass er seinem Kumpel auch einfach eine seiner Packungen überlassen könnte. Aber gut. Die Stimmung im Bus ist angespannt. Beschämt versuche ich, mich möglichst weit von älteren Damen und Herren wegzusetzen, sie dabei noch entschuldigend anzulächeln, aber bloß nicht den Mund aufzumachen. Vielleicht bin ich krank und weiß es nur nicht. Das Lächeln wird manchmal verständnisvoll erwidert. Wir haben keine Wahl, wir müssen Busfahren.
Unangenehm wird es, als ich wieder an der Bushaltestelle in der Stadtmitte stehe und auf meinen Anschluss warte. Eine alte Frau, gebückt dastehend mit dunkel verspiegelten Brillengläsern fängt lautstark an, auf mich einzureden. Irritiert nehme ich mir erst einmal die Kopfhörer aus den Ohren: „Entschuldigen Sie bitte, was möchten Sie?“ Dabei trete ich einen Schritt zurück. Sie ist mir so nah gekommen, dass ich es auch unter normalen Umständen schräg gefunden hätte. Sehr laut flüstert sie, mit einem verstohlenen Kopfnicken nach hinten deutend, mir dann zu: „Sehen Sie die Frau dort stehen? Die mit den roten Augen? Ich sach’s Ihnen, die ist krank! Das sowas noch überhaupt Busfahren darf! Die gehört nach Hause!“ Peinlich betreten gehe ich noch einen Schritt zurück und zucke nur mit den Schultern. Sie folgt mir: „Finden Sie nicht?“ Wieder zucke ich mit den Schultern und lächle gequält. Besagte Frau mit den roten Augen wird jetzt im gesamten Gesicht knallrot. Sie hat alles gehört. Zum Glück kommt wenig später der Bus und ich kann vor der prekären Situation fliehen.
Tausende Kilometer weiter entfernt, im Auffanglager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, harren derweil Tausende von Geflüchteten unter unmenschlichen Bedingungen aus. Deutschland brüstet sich damit, demnächst 50 Kinder aus dem Lager aufzunehmen. 50 von 20.000 Menschen, allein in Moria, die nicht genügend Zugang zu Wasser, Seife und medizinischer Versorgung haben. Sie sind die Vergessenen am Rande von Europa. Sie würden sich freuen, wenn ein Bus sie irgendwo hinbringen würde, wo es ein bisschen besser ist. NGOs wie „Sea-Watch“ und „Amnesty International“ fordern die EU-Kommission dazu auf, die Auffanglager in Griechenland zu evakuieren. Denn wenn COVID-19 sich dort ausbreitet, wird es sehr viele Tote geben. Sie haben nicht den Raum für „Social Distancing“.
Das Boot, in dem wir alle gemeinsam sitzen, war niemals gleich. Während diese Geflüchteten in Schlauchbooten vor die Grenzen Europas gespült wurden, machten so manche Europäer_innen letzten Sommer sogar noch eine luxuriöse Kreuzrundfahrt, schipperten am Bodensee mit einem Segelbötchen umher oder genossen eine Stadtrundfahrt auf einem Touri-Dampfer über die Moldau in Prag. Durch die Corona-Krise werden wir nicht alle gleich, sondern Ungleichheiten werden noch größer beziehungsweise sichtbarer. Nationale Grenzen bekommen schärfere Konturen als zuvor. Unter dem Hashtag #LeaveNoOneBehind wurde eine Petition gestartet, welche bereits über 300.000 Menschen unterschrieben haben. Es liegt in Europas Verantwortung, dafür zu sorgen, dass alle auf den Rettungsschiffen Platz finden.