Während ich die Küche betrete, gibt unser Espressokocher mit einem gurrenden Laut zu verstehen, dass der Kaffee jetzt wohl fertig ist. Meine Mitbewohnerin blickt mit müden Augen zu mir, während sie den Kocher vom Herd nimmt. „Alles gut?“, frage ich und öffne den Kühlschrank. „Jep“, antwortet sie und fügt nach kurzem Zögern in unverändertem, ja fast gelangweiltem Tonfall hinzu: „Meine ‚existential crisis‘ mal wieder.“ Verständnisvoll schauen wir uns an. Das Übliche also.
Was meine Mitbewohnerin meint, hat nichts mit einer existenziellen Krise im finanziellen Sinne zu tun. Sie meint die Art von Krise, bei der man sich mit der eigenen Existenz im abstrakten Sinne auseinandersetzt und nach dem Sinn des Lebens fragt. Diese Themen stehen auch im Zentrum einer philosophischen Strömung, die den Namen Existenzialismus trägt. Eine Philosophie, die gewissermaßen immer aktuell war und es auch immer sein wird, weil sie die menschlichsten Fragen überhaupt anspricht.
Existenzialismus? Was war das nochmal?
Was „der“ Existenzialismus ist, ist nicht ganz ohne Weiteres zu beantworten. Denn die Vertreter:innen, die man dazu zählt, waren sich in manchen Punkten vollkommen uneinig. Die wohl berühmtesten Namen des Existenzialismus sind mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre im 20. Jahrhundert zu verorten, wobei die Ursprünge sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Im 20. Jahrhundert erlebt der Existenzialismus jedoch eine Hochphase, denn insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewann diese Denkschule, in dessen Zentrum Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung stehen, enorm an Popularität. Der Existenzialismus blieb in dieser Phase nicht auf die Philosophie beschränkt, sondern verbreitete sich zugleich als kulturelles Phänomen. Nicht nur verarbeiteten zahlreiche Künstler:innen und Schriftsteller:innen jener Zeit die Ideen des Existenzialismus in ihren Werken, sondern diese prägten auch wesentlich den Lebensstil der Nachkriegsgeneration.
Aber was sind denn die Ideen des Existenzialismus?
Die bekannteste Version des Existenzialismus hat Jean-Paul Sartre in seinem Werk „Das Sein und das Nichts“ 1943 ausgearbeitet. Sartre ist der Meinung, dass es weder einen Gott noch einen zuvor festgelegten Lebenssinn gibt. Seine Kernthese ist: Die menschliche Existenz geht der Essenz voraus. Das bedeutet, der Mensch wird zunächst als bloße Existenz geboren und formt erst danach sein Wesen. Damit einher geht die Freiheit, sich durch Entscheidungen und Handlungen selbst zu definieren und seinem Leben eigenständig Sinn zu verleihen. Diese Freiheit ist gleichzeitig jedoch auch eine Bürde, denn der Mensch kann sich der Aufgabe, sein Wesen formen zu müssen, nicht entziehen: Er kann nicht anders, als Entscheidungen zu treffen. Selbst keine Entscheidung zu treffen, ist bereits eine Entscheidung. „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“, so Sartres berühmter Satz.
Freiheit soll hier nicht heißen, dass jedem Menschen alles möglich ist. Laut Sartre befindet sich der Mensch stets in Situationen, die durch eine Mischung aus Faktizität (unseren Gegebenheiten) und Transzendenz (wie wir diesen entgegentreten) geprägt sind. Er ist der Meinung, dass wir durch unsere transzendente Art immer über unsere Gegebenheiten hinausgehen können. Die Kehrseite dieser radikalen Freiheit ist jedoch: Der Mensch trägt die alleinige Verantwortung für sein Leben und was er aus sich macht. Diese Verantwortung betrifft laut Sartre nicht nur uns selbst. Mit unserem Selbstentwurf wählen wir nämlich gleichzeitig auch die Werte, die wir für alle Menschen als erstrebenswert erachten.
Im Grunde besteht das Leben dieser Auffassung nach also daraus, Entscheidungen zu treffen, um Identität und Sinn in einer eigentlich sinnlosen Welt zu gewinnen. Um dieser beängstigenden Gestaltungsaufgabe zu entfliehen, machen es sich viele im gesellschaftlich geregelten Alltag bequem. Das bezeichnet Sartre als „unaufrichtig“. Seine Maxime ist es „authentisch“, also im Bewusstsein der eigenen Freiheit, zu leben.
Soweit die Kurzfassung.
Aber was macht man nun daraus?
Ich persönlich weiß im ersten Moment nicht, was ich aus meinen ersten Erkenntnissen über Existenzialismus machen soll. Okay, ich bin also erstaunlich frei und verantwortlich. Aber wie finde ich denn jetzt meinen persönlichen Lebenssinn? Und ist es nicht völlig normal, dass ich mich dieser Verantwortung manchmal lieber entziehen würde? Hilfreich finde ich die Erkenntnisse dennoch, und zwar dann, wenn man sie erstmal einfach nur als Beschreibung der Art und Weise des Menschen zu existieren hinnimmt, ohne daraus direkt eine Anleitung oder ein Rezept machen zu wollen. So lassen sich doch zum Beispiel Gefühle wie Druck und Angst bezüglich der Lebensgestaltung viel besser einordnen, wenn man sich bewusst macht, dass sich der Mensch permanent in der absurden Situation befindet, seiner grundlosen Existenz einen Sinn verleihen zu müssen.
Nun gibt es viele Möglichkeiten, mit der Absurdität des Lebens umzugehen. Manch ein Schriftsteller wie Ernest Hemingway verarbeitete dieses Thema mithilfe von bittersüßer Ironie in Romanen wie „The Sun Also Rises“. Manch ein Künstler wie Francis Bacon brachte es in seiner Darstellung von schreienden oder gequälten Menschen gänzlich ungeschönt zum Ausdruck. Mir genügt es fürs Erste ein bisschen darüber zu reden.
Geistig wieder in unserer WG-Küche anwesend mache ich den Kühlschrank endlich zu und frage meine Mitbewohnerin: „Willst du darüber reden?“