Litfaßsäule

Geschichten aus der Campuls-Redaktion: Corona und Erasmus

Unser Lektorin Anna-Maria Kübler studiert LKM an der Universität Konstanz und ist für ihr sechstes Semester nach Tartu, Estland gezogen. Doch dann kommt die Corona-Pandemie, das Auswärtige Amt erlässt eine weltweite Reisewarnung und viele Erasmus-Studierenden reisen fluchtartig in ihre Heimatländer zurück. Anna entscheidet sich in Tartu zu bleiben – und erlebt ein ziemlich anderes Erasmussemester. Im Interview erzählt sie, wie sie die Krisenzeit dort erlebt hat.

Erasmus in Estland, das klingt eher ungewöhnlich. Die meisten Studierenden wollen lieber nach Skandinavien oder in den Süden. Wie kamst du darauf, dein Auslandssemester dort zu verbringen?

Das war mehr zufällig, ich wusste eigentlich nur, dass ich in eine nördliche Region wollte. Als ich dann die Liste mit den möglichen Städten und Universitäten durchgelesen habe, hat mich Tartu sofort angesprochen. Mir ist aufgefallen, dass ich eigentlich nichts über die baltischen Länder wusste und neugierig darauf war, etwas Neues kennenzulernen. Auch die Aussicht, vielleicht nach Russland reisen zu können, hat mich gereizt. Leider kam dann die Corona-Pandemie dazwischen und ich verbrachte meine Zeit hauptsächlich in Tartu. Estland habe ich trotzdem lieben gelernt. Ich hatte das Glück, dass ich zu Beginn meines Erasmus-Aufenthalts Anfang Januar einen dreiwöchigen Sprachkurs in Tallin, der Hauptstadt Estlands, machen konnte. So war es möglich, noch eine weitere Stadt vor der Pandemie kennenzulernen.

Wie war die Corona-Situation in Estland? Welche Vorsichtsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie galten in Tartu?

Grundsätzlich hatte ich das Gefühl, dass Estland die Situation sehr schnell ernst genommen hat. Obwohl es im ganzen Land vergleichsweise wenig Fälle gab, circa 2000 seit Ausbruch der Pandemie, wurde schon Mitte März die „Emergency Situation“ ausgerufen. Alle Geschäfte, Bars und Restaurants hatten geschlossen, überall sollten Masken getragen und nur noch in zwingenden Fällen das Haus verlassen werden. Eine Ausgangssperre oder ähnliches gab es hier aber nie, nur dringende Empfehlungen. Generell hat Estland aber auch einen Vorteil, weil es um die Städte herum viel Wald und Natur gibt und deutlich weniger Einwohner_innen als in Deutschland. In Estland leben ingesamt nur circa 1,3 Millionen Menschen, weswegen die Situation im Land vermutlich leichter überschaut werden konnte.

Außengehege: Negativ getestete Kontaktpersonen des „Quarantäne-Stockwerks“ durften in diesem abgesperrten Bereich Luft schnappen – und im Kreis rennen.

Wie hast du die vergangenen Wochen und Monate in Estland erlebt?

Ich lebe in Tartu in einem großen Studierendenwohnheim. Ursprünglich wohnte ich in einer Sechser-WG, durch die Pandemie waren meine türkische Mitbewohnerin und ich plötzlich allein in der Wohnung. Zu Beginn war alles noch recht entspannt und ich habe mich noch vereinzelt mit Leuten aus dem Wohnheim zum Spazierengehen getroffen. Mitte April gab es dann allerdings drei Corona-Fälle in meinem Wohnheim und alle 300 verbliebenen Bewohner_innen wurde von jetzt auf gleich unter Quarantäne gestellt. Wir durften drei Tage unsere Wohnungen nicht verlassen, wurden mit Essen von Mitarbeitenden der Gesundheitsbehörde versorgt und mussten alle einen Corona-Test machen. Schließlich wurden 16 Bewohner_innen positiv getestet – unter anderem auch meine Mitbewohnerin. Deshalb wurden alle Corona-Infizierten und deren Kontaktpersonen (in dem Fall auch ich) für zwei Wochen vom Rest des Wohnheims isoliert. Wir mussten in ein extra „Corona-Stockwerk“ umziehen, Infizierte durften die Wohnung anschließend gar nicht mehr verlassen. Ich durfte mich zumindest noch draußen vor dem Wohnheim in einem abgesperrten Bereich aufhalten.

Postitiv getestete Bewohner_innen durften selbst für eine Zigarette das „Quarantäne- Stockwerk“ nicht verlassen.

Das war echt eine krasse Zeit, vor allem da es im Vergleich zu den Zahlen im Rest des Landes vergleichsweise viele Fälle auf einmal waren. Ich wohnte quasi in einem „Corona-Hotspot“, weswegen auch die Presse über unsere Lage berichten wollte. Vor unserem Gebäude haben dann Journalist_innen gewartet und wollten uns interviewen. Diese Ausnahmesituation war mit die schwerste Zeit während meines gesamten Aufenthaltes und ich habe mich öfter gefragt, warum ich nach der Quarantäne noch in Estland bleiben sollte. Aber irgendwie hat mich die ganze Corona-Sache auch ein bisschen überrollt. Ich hatte so viel Zeit und Energie in die Organisation meines Auslandssemesters gesteckt und wollte das nicht einfach so hinter mir lassen. Außerdem habe ich mich in Estland sicherer als in Deutschland gefühlt und wollte mir den Flug nicht antun und dadurch womöglich noch meine Familie gefährden. Und irgendwo hatte ich auch noch die Hoffnung, dass es besser wird – deshalb bin ich geblieben.

Unter welchen Bedingungen konntest du dein Studium fortsetzen?

Ähnlich wie in Deutschland gab es keine Präsenz-Uni mehr. Die Est_innen haben es aber relativ reibungslos geschafft, die Vorlesungen auf Online-Veranstaltungen umzustellen, obwohl die Corona-Pandemie mitten im Semester kam. Sogar meine praktischen Kunstkurse konnten weiterlaufen. Trotzdem gab es auch hier ähnliche Probleme wie an deutschen Unis. Es gab keine einheitliche Plattform und die Qualität der Lehre hing sehr vom persönlichen Engagement der Dozent_innen ab.

Was würdest du anderen Studierenden raten, die vielleicht im kommenden Wintersemester einen Erasmus-Aufenthalt planen?

Prinzipiell ist es schwierig, eine pauschale Antwort zu geben, weil sich die Situationen in den Ländern schlecht vergleichen lassen. Hier in Estland aber hat sich die Lage mittlerweile deutlich entspannt, da die Neuinfektionen auf nahezu null gesunken sind. Jetzt wird es langsam wärmer und Restaurants, Cafés, Läden und sogar Clubs haben wieder geöffnet. Ich bin sehr zwiegespalten, was die Öffnungen angeht, freue mich aber auch, noch ein bisschen Normalität in Estland zu erleben, bevor ich Ende Juni nach Deutschland zurückkehre.

Mittsommer an der Küste Estlands: Aller schwierigen Zeiten zum Trotz erinnerten die letzten Tage umso mehr daran, warum es sich lohnt, hoffentlich bald wiederzukommen!

In letzter Zeit sind auch wieder unbedenklicher Tagesausflüge möglich, wodurch ich doch noch mehr vom Land sehen kann. Generell würde ich sagen, dass ein Auslandsaufenthalt, im Hinblick auf die aktuellen Lockerungen, definitiv möglich sein kann. Vielleicht nicht ganz so, wie man es bisher gewohnt war, aber die Chancen bestehen, dass es trotzdem eine unvergessliche Zeit wird. Wichtig ist nur, dass man sich intensiv mit der Gastuniversität in Verbindung setzt, um zu klären, was im individuellen Fall möglich und sinnvoll ist. Von vornherein ausschließen muss man ein Auslandssemester jedoch auch unter diesen Umständen nicht.

Der erste kleine Ausflug nach der zweiwöchigen Quarantäne führte in Tartus schönen Nachbarort Elva.
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