2023: Ein Wechselbad der Gefühle

Während diese Jahresrückblick-Reihe mit dem Jahr der Corona-Pandemie in Deutschland begann, endet sie in dem Jahr, in dem die letzten Corona-Maßnahmen bei uns beendet worden sind: Ein beladenes Jahr mit einer Vielzahl an Weltereignissen liegt hinter uns – wie auch in den vergangenen drei Jahren nimmt uns unsere Redakteurin Jamie-Lee Merkert mit auf eine Reise der Katastrophen, Anastrophen und allem, was dazwischen liegt.

2023 hat den kläglichen Versuch gewagt, aus den Fehlern der vergangenen Jahre zu lernen. Doch die Flut an schlechten Nachrichten hat nicht abgenommen, dass es immer dümmer geht, scheint längst bewiesen und wie schlimm es um die Welt steht, ist uns schmerzlich bewusst.
Die seit Jahren ansteigende „News Fatigue,“, sich von ständigen Nachrichten überlastet oder erschöpft fühlen, scheint sich mittlerweile als „Media Fatigue“ quer durch die Nutzenden von sämtlichen Nachrichtenagenturen, sozialen Netzwerken und Zoomtelefonaten zu ziehen. Die Flut an ständig neuen Trends und die Überlastung durch übermäßige Nutzung von Videokonferenzsoftware führen dazu, dass nicht nur Schlagzeilen, sondern auch alltägliche Ereignisse uns erdrücken. Es ist schon lange her, dass wir von einer Vielzahl von kleinen und großen Weltereignissen überwältigt werden.

Ein kleiner Ausschnitt des Weltgeschehens 2023 aus eurozentristischer Perspektive

  • 1. Januar: Kroatien führt den Euro ein und tritt dem Schengenraum bei.
  • 1. Januar: Das Bürgergeld ersetzt in Deutschland das bisherige Arbeitslosengeld „Hartz IV“
  • 6. Februar: Zwei schwere Erdbeben erschüttern türkische Provinzen im Südosten sowie im Norden Syriens. Dadurch sterben mehr als 56.000 Menschen und mehr als 110.000 werden verletzt. Laut WHO handelt es sich um die schwerste Naturkatastrophe in Europa seit einem Jahrhundert.
  • Ab März: Die Waldbrandsaison 2023 war die schlimmste in Kanada seit Beginn der Aufzeichnungen.
  • 4. März: Nach 15 Jahren Verhandlungen einigen sich mehr als 100 UN-Mitgliedsstaaten auf das erste internationale Hochseeabkommen. Ab 2030 sollen mindestens 30 Prozent der Weltmeere als Schutzgebiete ausgewiesen werden.
  • 26. März: Der Volksentscheid „Berlin 2030 klimaneutral“ scheitert aufgrund zu geringer Teilnahme an der Abstimmung.
  • 4. April: Finnland wird als 31. Mitglied in die NATO aufgenommen.
  • 8. April: Nach drei Jahren Corona-Pandemie enden die letzten bundesweit geltenden Schutzmaßnahmen.
  • 6. Mai: Die Krönung von King Charles III. und Queen Consort Camilla
  • 14. Mai: Bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl wird in der Türkei Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt.
  • 23./24. Juni: Im Kontext des Ukrainekriegs hat die Gruppe Wagner begonnen auf Befehl von Jewgeni Prigoschin einen Aufstand in Russland.
  • Juli: Indien überholt China als bevölkerungsreichstes Land.
  • 26. Juli: In Niger findet ein Militärputsch statt. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS hat mit einer bislang nicht erfolgten Militärintervention gedroht. Deutschland hat seine Entwicklungszusammenarbeit mit Niger vorerst ausgesetzt.
  • 30. August: In Gabun findet nach der Parlamentswahl ein Militärputsch statt. Während es in der Hauptstadt Libreville zu Feierlichkeiten gekommen ist, ist der Putsch sowohl von der zentralafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECCAS als auch von weiteren Staaten weltweit verurteilt worden.
  • 19. September: Aserbaidschan beginnt eine Militäroffensive gegen die Republik Bergkarabach, die nur einen Tag später aufgrund von militärischer Unterlegenheit kapituliert.
  • 7. Oktober: Die Hamas überfällt Israel am Feiertag Simchat Tora,der auf denselben Tag wie der 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges, mit einem Terrorangriff. Das Massaker an der Bevölkerung gipfelt in Verschleppungen in den Gazastreifen. Seit dem Ende des Jom-Kippur-Krieges in 1973 wurde erstmals wieder der Kriegszustand ausgerufen und mit Gegenangriffen reagiert, was bisher unzählige Menschenleben auf beiden Seiten gekostet hat.

Die Normalität der katastrophalen Schlagzeilen

Während der Klimawandel medial allgegenwärtig ist, wirken die Nachrichten der politischen Handlungen als Satire. Es kam nicht nur zur Räumung des von Klimaschützenden besetzten Dorfes Lützerath in Nordrhein-Westfalen, das dem Kohleabbau weichen soll, zudem hat auch Weltklimakonfernz in Dubai stattgefunden. Eine Konferenz zur Rettung des Klimas in einer Stadt, die durch „Öligarchen“ mit Ölreichtum aufgebaut wurde und von Befürwortern fossiler Energien bevölkert ist, mutet geradezu absurd an. Da ist die Tatsache, dass viele Teilnehmende mit Privatjets anreisten, nur ein nebensächlicher Affront.

Es wirkt, als würden wir überall zu viel Öl ins Feuer gießen, während die Erde droht, uns allen um die Ohren zu fliegen – ein Schicksal, das bereits in einigen Ländern durch verheerende Waldbrände spürbar ist. Immerhin hat Deutschland am 15. April den Atomausstieg geschafft – 48 Jahre nach dem die ersten „Atomkraft, Nein danke!“-Sticker in Umlauf gebracht worden sind. „Isar 2“ in Bayern, „Neckarwestheim“ in Baden-Württemberg und „Emsland“ in Niedersachsen sind stillgelegt. Doch nicht nur die Frage nach dem Atommüll bleibt weiterhin unbeantwortet, sondern auch die Sicherheitsbedenken. Diese kommen angesichts anderer europäische Länder auf. Wenn man es nicht besser wüsste, wirken diese als würden sie durch Aufrüstung in der Atomenergie eine Art Gleichgewicht zu Deutschlands Ausstieg herstellen wollen.

So fragen sich viele Menschen derzeit: Was sollen wir jedoch noch erwarten, wenn diejenigen, die für das Klima einstehen, weggesperrt werden sollen? Im Mai kam es zu einer bundesweiten Razzia gegen die Klimabewegung „Letzte Generation“. Von oft als „Klimaklebern“ beschimpften Aktivist:innen kann man halten, was man möchte, schlussendlich haben sie ein nobles Ziel, das nicht weniger ist als die Rettung der Erde vor der Klimakatastrophe. Nicht nur in den vergangenen Jahren waren die Rückblicke voll von Waldbränden und Überschwemmungen. Auch in diesem Jahr haben die Naturgewalten eine Spur an Verwüstung und Leid hinterlassen.

An den Racheakten der Natur scheinen sich die Menschen nach wie vor ein Beispiel zu nehmen. Während die westliche Welt mit dem Ukrainekrieg überfordert wirkt, ist auch im Sudan Krieg ausgebrochen. Während in Israel und im Gazastreifen im Krieg eine Menschenrechtsverletzung nach der anderen begangen wird, kriechen die Auswirkungen der Konflikte und Kriege immer mehr bei uns in den Alltag. Die In- und Auslandspolitik in Deutschland und auch ganz Europa hat zur Schaffung von Flüchtlingen beigetragen und gleichzeitig eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber Fremden ausgelöst. Dies hat am 8. Dezember zur Einstufung der AfD im Freistaat Sachsen als gesichert rechtsextremistisch durch das Landesamt für Verfassungsschutz geführt.
Doch nicht nur Deutschland hat mit der rechten Fraktion Schwierigkeiten. Am 22. November gewinnt der Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner Partei PVV die Parlamentswahl in den Niederlanden.

Zwischen all diesen großen Schlagzeilen verschwinden andere Nachrichten wie in einem schwarzen Loch der Bedrückung, darunter der Tod der Rocklegende Tina Turner am 24. Mai und die Anschuldigungen von Shelby Lynn gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann am 25. Mai, die ein Ermittlungsverfahren ausgelöst haben, aber Ende August aufgrund nicht hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurden.

Nicht nur im Kino wurde für Frauenrechte demonstriert und auch fernab der Kinoleinwände fielen immer wieder Bomben auf Unschuldige.

Die Schokoladenseite von 2023

Neben all den kleinen und großen Katastrophen hat sich dieses Jahr jedoch Mühe gegeben, um für Gerechtigkeit zu sorgen. So wurde seit dem 30. März gegen Donald Trump, den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, mehrere Anklagen erhoben. Er ist damit der erste US-Präsident, der angeklagt ist.
Auch in der Medizin und Pflege hat sich 2023 versucht: Am 26. Mai beschließt der Bundestag eine Pflegereform, die Angehörigen und Heimbewohner:innen finanzielle Entlastung verspricht. Die Bundesärztekammer setzt zudem im September eine Richtlinie in Kraft, wonach Homosexualität bei Blutspenden keine Rolle mehr spielt.

Auch regelrechte Wunder haben dieses Jahr erhellt: Beispielsweise im Juni, als in Kolumbien vier Kinder nach einem Flugzeugabsturz vierzig Tage im Dschungel überlebt haben.
Doch vor allem das Durchbrechen der Normalität bleibt uns im Gedächtnis – sei es bei positiven als auch negativen Schlagzeilen. Neben den Wundern waren die Stimmen der Gerechtigkeit an allen möglichen Fronten aktiv. So haben beispielsweise im Oktober um die tausend Isländerinnen für mehr Gleichberechtigung gestreikt.

Genauso überraschend wie die Weltgeschehnisse ist auch die Medienlandschaft gewesen: Lange haben wir darauf gewartet bis „Avatar 2“ in den Kinos angelaufen ist, doch geschlagen wurde der langersehnte Film von „Barbenheimer“. Dass ein Film mit feministischer Botschaft zeitgleich mit einem Historienfilm von Christopher Nolan durch die Decke geht, hätte vermutlich niemand erwartet. Sei es Marketing, Social Media Push oder die Tatsache, dass viele Themen normalisiert werden, 2023 hat nicht nur im Kino die Plätze voll werden lassen. Sei es auf den Straßen oder in den Politikstühlen dieser Welt, das letzte Jahr hat sich von all seinen Facetten gezeigt.
Denn letztendlich wollen wir bei all der Media Fatigue doch vor allem eines: Mehr Realität, auch wenn sie oft weh-tut.

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