Es ist ein grauer Novembermorgen, leichter Nieselregen fällt auf die Start- und Landebahnen des Flughafens Baden-Baden/Karlsruhe. Die Passagiere des Ryanair-Flugs 3106 nach Lissabon umschlingen fröstelnd ihre Oberkörper, während sie im überdachten Außenbereich des Gates auf den Boarding-Abschluss warten. Die Regenschirme für den kurzen Fußweg bereits gezückt, blicken sie sehnsüchtig auf die abflugbereite Maschine. Ihre Augen sagen das, was ich denke: Bring mich weg aus dem Grau!
Drei Stunden, knapp 2.000 Kilometer und – dank der nicht vorhandenen Beinfreiheit – fünf eingeschlafene Zehen später, ist es soweit: Unsere Maschine landet auf dem Flughafen Humberto Delgado in Lissabon, Hauptstadt Portugals und gleichzeitig größte Stadt des südwesteuropäischen Landes. Die Sonne scheint, der Tejo, an dessen Ufer Lissabon erbaut ist, glitzert und die Temperatur ist von acht auf 20 Grad gestiegen. Winterjacken werden aus- und Sonnenbrillen angezogen. In mir breitet sich das typisch wohlige Gefühl aus, das sich nur angesichts sieben Tagen unverbrauchten Urlaubs einstellt. „Die Stadt wartet auf uns!“, ruft mein euphorisches Ich.
Zuerst einmal warten dann aber nur mein Freund und ich – und zwar in einer Taxisschlange, die gefühlt aus der Hälfte aller ankommenden Passagiere besteht. Portugiesisch mischt sich mit Spanisch, Englisch und Französisch, gelegentlich hört man auch deutsche Satzfetzen. Der Tourismus in Portugal boomt – vor allem in Städten wie Porto und Lissabon. Die Hauptstadt zieht so viele Menschen an, wie noch nie.
Letztes Jahr wurde der Humberto-Delgado-Flughafen von knapp 22,4 Millionen Passagieren genutzt, ein Plus von fast zwölf Prozent im Vergleich zum Jahr 2015. Je mehr Touristen, desto größer die Nachfrage nach bezahlbaren Ferienwohnungen. Ganz zu Freude von Online-Portalen wie 9flats, Wimdu und Airbnb, die private Unterkünfte vermitteln. Auch wir haben über Airbnb ein Zimmer in einer Privatwohnung gebucht, zu der uns der redselige Taxifahrer – Obacht: Special-Touristenpreise, nehmt lieber ein Uber – für einen zu hohen Fahrpreis, dafür aber inklusive zahlreicher Ausflugstipps, nun bringt.
Begrüßt werden wir von einer netten Frau Mitte 20, einer modern eingerichteten Stadtwohnung und dem dezenten Geruch nach Katzenklo. Die nette Frau heißt Andrea und ist die Freundin unserer Vermieterin, die ebenfalls in der Wohnung wohnt. Allerdings werden wir sie in unserer Lissabon-Woche ziemlich selten zu Gesicht bekommen – sie ist eine vielbeschäftigte und sehr lang schlafende Eventmanagerin mit täglichen Abendveranstaltungen. Von der Stadt sehen wir dafür umso mehr.
Lissabon muss man sich erlaufen. Die portugiesische Hauptstadt ist auf sieben Hügeln erbaut, die wir, meinem Muskelkater nach zu urteilen, alle erklommen haben – mehrmals. Auf einem besonders hohen Berg, dem sogenannten Burgberg, steht – Überraschung – eine Burg: das Castelo de Sao Jorge. Von der besteigbaren Wehrmauer aus, hat man einen ganz wunderbaren Blick auf die Unterstadt Lissabons, den man mit einem Glas Wein, zu kaufen bei einem kleinen Wagen mit der Aufschrift „Wine with a view“, genießen kann.
Man blickt auf ein Mosaik aus Häuserdächern, verwinkelten Gassen und großen, aus der Stadtlandschaft herausragenden, Kirchengebäuden. Dazwischen bunte Punkte – rot und lila blühende Büsche (Im November!), farbenfrohe Wäsche, die an Leinen vor den Fenstern oder auf winzigen Balkonen baumelt und Häuserfassaden, bemalt mit Graffitis und geschmückt mit bunt gemusterten Kacheln von floral bis geometrisch. Letztere nennt man Azulejos; die portugiesischen Wandfließen sind charakteristisch für Portugal und insbesondere Lissabon.
Genauso typisch wie Sangria, Portwein (Schmeckt gut mit Tonic Water und Eiswürfeln!), Grüner Wein (Vino Verde, das Lieblingsgetränk der Einheimischen) und Ginjinha (ein süßer Sauerkirschlikör, vorzugsweise aus Schokobechern zu trinken) – all diese edlen Tröpfchen kann man in zahlreich vorhandenen kleinen Restaurants und Bars schlürfen, die das Stadtbild ebenso prägen, wie unzählige Bäckereien mit Blätterteigvariationen aller Art und winzige Gemüseläden. Es mag am Wein oder einfach an der Mentalität der Lissabonner liegen, dass die Stadt eine unglaubliche Gelassenheit und Ruhe ausstrahlt – Hektik ist trotz der steigenden Touristenzahlen und den 680.000 Einwohnern Fehlanzeige.
Das Wort strahlen kann man übrigens wörtlich nehmen: Lissabon ist ein ganz besonderes Licht getaucht. Die Stadt leuchtet in hellen Tönen, strahlt in Gelb- und Rosé-Nuancen. Nicht von ungefähr kommt die Bezeichnung „Stadt des Lichts“. Tatsächlich gibt es auch eine Erklärung für die schöne Licht-Atmosphäre: Die riesige Wasseroberfläche des Tejos reflektiert das darauf fallende Sonnenlicht und lässt Lissabon strahlen. Besonders eindrucksvoll ist das von einem der vielen Aussichtspunkte, den Miradouros, zu sehen.
Dort werden in kleinen Kiosk-Cafés meist auch Kaffee und allerlei Gebäck angeboten. Besonders lecker und eine in Lissabon erfundene Spezialität sind Pastéis des Natas, mit einer Sahne-Vanille-Creme gefüllte Blätterteigtörtchen. In unserer Urlaubswoche ernähren wir uns gefühlt von täglich drei Tonnen der leckeren Küchlein – und jeder Menge Fisch: Sardinen, Thunfisch, Meeresfrüchte jeglicher Art und dem allgegenwärtigen Bacalhau, auf Deutsch: Stockfisch.
Den „treuen Freund“, so nennen ihn die Portugiesen, gibt es in unzähligen Varianten. Er wird roh, mariniert, gegrillt und gekocht gegessen und in Vorspeisen, Suppen und sogar Desserts verarbeitet. Eine Begegnung der besonderen Art hatten wir auch mit einem schwarzen Schwertfisch – ein unglaublich langes, pechschwarz glänzendes, aalartiges Tier mit überdimensional großen Glupschaugen und spitzen Piranha-Zähnen. Der stolze Kellner zeigte und den Fisch wohlweislich erst, nachdem wir ihn schon, zu (echt leckeren) Filets verarbeitet, verspeist hatten.
Das Beste an all den Köstlichkeiten: Sie sind, wie auch das restliche Leben in Lissabon, für den studentischen Geldbeutel erschwinglich. Als wir das erste Mal das kleine Café neben unserer Wohnung besuchten und für einen großen Milchkaffee und einen Espresso nur 1,50 Euro bezahlten, dachten wir, der Kellner hätte sich vertan. Hatte er aber nicht und der Laden wurde zu unserem Stamm-Café. In dem winzigen, bunt bemalten und vom rund um die Uhr laufenden Fernseher beschallten Räumchen hatten wir auch eine Begegnung, die sinnbildlich für die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Lissabonner steht.
Eine portugiesische Oma, ausgestattet mit dem üblichen, den glatten Pflastersteinen geschuldeten Gehstock, sprach uns an, als wir gerade im Begriff waren das Café zu betreten. Wir verstanden kein Portugiesisch und sie kein Englisch oder Deutsch – trotzdem redete sie ununterbrochen auf uns ein, wedelte mit ihren Fingern vor unserem Gesicht herum, zeigte auf den Reiseführer in unseren Händen und schüttelte immer wieder verzweifelt den Kopf. Irgendwann war die arme Frau völlig aufgelöst. Sie begann – wir waren mittlerweile im Café – andere Gäste und das Personal anzusprechen, wobei sie immer wieder auf uns zeigte.
Der ganze Laden geriet in Aufruhr. Wir waren sicher, dass die ältere Frau Hilfe benötigte. Schließlich kam heraus – der Kellnerin sei Dank – dass genau das Gegenteil der Fall war. Die Oma hielt uns für desorientierte, hilfesuchende Touristen und wollte uns unbedingt weiterhelfen. Dabei schmökerten wir nur gemütlich in unserem Reiseführer, tranken unseren morgendlichen Espresso und hatten – so zumindest unser Eindruck – gar keine verzweifelten Signale ausgesendet.
Wie auch immer, die Lissabonner sind ein nettes Volk. Nach ein paar anfänglich sehr distanzierten „Hey guys“ von unserer Airbnb-Vermieterin, lud uns diese schließlich sogar zu einem von ihr organisierten Jazz-Event ein. Es klang gut, wir wollten nicht unhöflich sein und gingen hin. Es stellte sich heraus, dass das Ganze in einer vollkommen verrauchten (Ich spreche nicht von Zigaretten), alten Fabrikhalle stattfand, und von Leuten der linken Alternativszene Lissabons besucht wurde, die abwechselnd sehr schrägen Jazz spielten. Trotzdem – oder gerade deswegen – war es ein sehr lustiger Abend.
Weniger schräg, dafür aber umso melancholischer ist der Fado, Lissabons Sehnsuchtsmusik. Der oder die fadista singt, in sich gekehrt und mit geschlossenen Augen, von unerwiderter Liebe, vergangenen Zeiten und den Härten des Lebens. Läuft man durch das nächtliche Lissabon, so erklingen aber auch erbaulichere Klänge. Straßenmusiker präsentieren ihre Kreationen, Bands spielen Salsa, Menschen tanzen zu Techno- und Housemusik, die aus hell erleuchteten Bars und Kneipen bis auf die Straßen dringt. Die Stimmung ist ansteckend, die Lebensfreude spürbar.
Ganz besonders schön:
Nach durchtanzten Nächten, bieten weite und weiche Sandstrände am Atlantik Entspannung und ein schönes Plätzchen für einen Mittagsschlaf. Der kilometerlange Küste Costa de Caparica auf der anderen Seite des Tejos ist wunderschön, ebenso wie das kleine Städtchen Cascais, das mit dem Zug 40 Minuten von Lissabon entfernt ist und mit seinen romantischen Buchten und einer pittoresken Altstadt besticht.
Party, Essen, Kultur und Meer: Lissabon ist bunt und vielfältig. Sowohl Feinschmecker, als auch Geschichts- und Architekturfans, Feierbiester und Sparfüchse kommen auf ihre (nicht allzu hohen) Kosten. Ein bisschen habe ich mich verliebt in die Stadt der sieben Hügel, der Törtchen und des Stockfischs. Umso schwerer fällt der Gang zum Flughafen – in Deutschland warten das Grau, die Uni und der erste Schnee.