Geisteskrank – Von der Stigmatisierung psychischer Krankheiten

Nach wie vor sind psychische Krankheiten und davon betroffene Menschen mit vielen veralteten Vorurteilen behaftet. Woher diese kommen und was wir für einen bewussteren Umgang mit dieser Thematik tun können, schlägt Serafina Strömsdörfer in diesem Artikel vor.

„Das Lied ist ja geisteskrank!“, „Verrückt, dass wir uns hier treffen“, „Du siehst wahnsinnig schön aus“, „Crazy, wie warm es draußen ist!“, „Diese:r Künstler:in ist wirklich sick!“,  „Kannst du bitte nicht so eine depri-Mucke anmachen?“

In unserer Alltagssprache tummeln sich Krümel der Wortfelder „verrückt“ oder „krank“, die häufig sogar positiv konnotiert sind, oder zumindest die Betonung einer gewichtigen Aussage zur Folge haben und emotionale Anteilnahme signalisieren. 

Wenn der Kuchen spricht schweigen die Krümel, so sagt man zumindest.

Wird jedoch der Kuchen „Psychische Krankheit“ im Gespräch angeschnitten, von dem besagte Krümel abgefallen sind, ist es, als hätte jemand reinen Tisch gemacht und all die Krümel weggewischt, die mit eben diesem Thema in Verbindung stehen.

Der Kuchen schweigt, die Krümel auch.

Wird über psychische Krankheiten oder Störungsbilder gesprochen, fällt es vielen Menschen schwer, Worte zu finden, die sich richtig anfühlen. Häufig kommt das Thema gar nicht erst zur Sprache, weil Unsicherheit und Unwissenheit (oftmals auch unvollständige oder undifferenzierte Information) sowie Unbekanntheit es schwer zugänglich und verbalisierbar machen.

Unsicherheit: Es ist mir unangenehm, über dieses Thema zu sprechen, ich weiß nicht, welche Worte ich wählen soll.

Unwissenheit: Ich weiß gar nicht genau, ab wann man von einer psychischen Krankheit spricht, welche es überhaupt gibt, wie häufig sie vorkommen, bei wem und warum.

Unbekanntheit: Ich habe keinerlei Berührungspunkte mit dem Thema und bin daher unerfahren (und vielleicht auch uninformiert) über psychische Störungsbilder. Psychische Erkrankungen sind mir fremd und verängstigen mich.

Auch die Konfrontation mit dem eigenen psychischen Wohlbefinden oder Leiden hält viele Menschen davon ab, sich intensiver mit der Thematik auseinanderzusetzen, um eventuellen unangenehmen Gefühlen oder Gedanken nicht über den Weg laufen zu müssen.

„Mental Health“ oder „Mental Disorders“?

Durch verstärkte mediale Aufmerksamkeit ist das Stichwort „Mental Health“ zumindest für die junge Generation wieder zugänglicher und fast schon salonfähig geworden.

Die Palette reicht von „Self-Care“ in Form von Tagebuchführung, Meditation, dem Kochen guter Mahlzeiten über Gedankenhygiene, Etablierung neuer Gewohnheiten und der Überdenkung des eigenen sozialen Umfeldes.

Auch liegt in dieser Begrifflichkeit der Fokus nicht auf „Krankheit“, wie es in vielen mit Gesundheit verwandten Feldern der Fall ist, was sich zum Beispiel in der Benennung eines Hospitals als „Krankenhaus“ zeigt. Mental Health möchte die psychische Gesundheit präventiv bewahren. Ein Schritt in eine neue Richtung?

Auf der anderen Seite sind Sätze wie „Der wollte nicht mehr leben“ oder „Die ritzt sich“ klassische Beispiele für die stereotypisierte Wahrnehmung psychischer Krankheiten. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang oft fällt, ist „Stigma“ — das ist „etwas, wodurch etwas oder jemand deutlich sichtbar in einer bestimmten, meist negativen Weise gekennzeichnet ist und sich dadurch von anderem unterscheidet“ (Duden, „Stigma“). Das Wort leitet sich aus dem altgriechischen Begriff für Zeichen oder Brandmal ab. Stigmatisierte Themen, Menschen oder Gruppen sind also gebrandmarkt von einem gesellschaftlich geprägten, häufig negativen Blick auf sie, wodurch eine Begegnung auf Augenhöhe verloren geht und manchmal gezielte, manchmal unbewusste Ausgrenzung entsteht. Wenn aus interpersoneller (zwischen zwei oder mehr Personen stattfindend), öffentlicher oder struktureller Stigmatisierung Diskriminierung wird, werden die Folgen dessen, was in den Köpfen vieler Menschen seit langem im Nachtschatten wächst, zu herabwürdigendem, ausschließendem oder anklagendem Verhalten betroffenen Menschen gegenüber erfahrbar.

Die Kinder beim Namen nennen:

Betroffene Themen sind zum Beispiel Suizidalität, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline, Bipolarität, Dissoziative Persönlichkeitsstörung ), Angststörungen, diverse psychotische Störungen (z.B. Schizophrenie), posttraumatische Belastungsstörungen und viele weitere Störungsbilder, deren Zuordnung und Definitionen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden sollen.

ERZÄHLEN

In Deutschland sind circa 17,8 Millionen Menschen von psychischen Krankheiten betroffen (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), Stand: Januar 2022), was etwa 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung entspricht.

In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur postuliert Psychotherapeut Thorsten Padelberg, dass Depressionen schon nahezu als Volkskrankheit zu bezeichnen seien. Es handelt sich also um eine die gesamte Gesellschaft betreffende Thematik, was wiederum dazu einlädt, sich tiefgründiger mit psychischen Erkrankungen zu beschäftigen.

Warum sind psychische Erkrankungen ein so ausgegrenztes Thema?

Geistige und körperliche Leiden werden seit langer Zeit als voneinander getrennt und unabhängig betrachtet und behandelt, was in der Abgrenzung geistig gesunder von geistig kranken Patient:innen resultierte.

Seit dem Altertum wurden „Verrückte“ oder „Narren“ regelrecht in „Zucht- oder Tollhäuser“ gesperrt, weil ihre Leiden als unheilbar galten und sie als Gefahr für die Allgemeinbevölkerung wahrgenommen wurden. In eben diesen Institutionen wurden Patient:innen unter meist vollends inhumanen Bedingungen wie Tiere gehalten, fixiert oder gar gefoltert. Erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert setzten sich Reformintentionen der „modernen“ Anstaltspsychiatrie wie die „No-Restraint-Bewegung“, deren Vertreter:innen sich gegen jegliche Formen von Zwangsmaßnahmen für die Behandlung von Patient:innen psychiatrischer Einrichtungen aussprachen, immer stärker durch, als es zum Tod eines Patienten in Zwangsjacke kam.

Nach und nach wurden die ehemals Justizvollzugsanstalten gleichenden Sanatorien und Nervenheilanstalten zu Institutionen, in denen die Gesundung der Patient:innen, die Gewährleistung eines menschenwürdigen Umfelds und die respektvoller Behandlung der Patient:innen ein Anliegen war, das es schleunigst umzusetzen galt.

Krank oder „normal“?

Natürlich ist im Kontext dieser Thematik zu betonen, dass auch massive Unterschiede in der Schwere und Ausprägung psychischer Störungsbilder vorliegen:

Es gibt Menschen, die eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen, es gibt aber auch Menschen, die ihren Alltag anders erleben und mit Schwierigkeiten konfrontiert sind, die für die „durchschnittlich Gesunden“ nicht als solche bewertet würden. Auch hier lässt sich wie bei so vielen komplexen Themen, feststellen, dass zwischen den Extrempolen „Krankheit“ und „Gesundheit“ ein buntes Spektrum zahlreicher Ausdrucksformen funktionaler wie auch maladaptiver (=schädlicher) Verhaltensweisen sowie Ausprägungen diverser Störungen liegt.

Und jetzt?

„Bin ich eigentlich verrückt?“, fragt sich der Inspektor aus Dürrenmatts „Die Physiker“, als er im Sanatorium „Les Cérisiers“ die Hintergründe der Tötung einer Krankenschwester ergründen soll.

Verrückt oder nicht —können wir lernen und üben, offener und direkter über psychische Krankheiten zu sprechen? Können wir anerkennen, dass diese Erkrankungen sicherlich in ihrer Erscheinung und ihrer Behandlungsform, jedoch nicht in ihrer Qualität oder Bedeutsamkeit von körperlichen Leiden zu unterscheiden sind? Können wir Menschen, die, egal zu welchem Grad, psychisch belastet sind, als vollständige, wertvolle Menschen ansehen, auch, wenn wir vielleicht nicht immer oder nicht mehr verstehen können, warum sie die Welt erleben und sich verhalten, wie sie es tun? Können wir für mehr Öffnung und Leichtigkeit im Umgang mit dieser Thematik sorgen, sodass auch Betroffene Raum finden, mit allem, was sie ausmacht aber auch allem, was sie belastet, da zu sein? Können wir auf Augenhöhe statt hinter verschlossenen Türen und breiten Rücken sprechen und zwar miteinander anstatt übereinander?

Die Stigmatisierung psychischer Krankheiten ist bedingt durch historisch gewachsene Abgrenzung psychisch belasteter Menschen vom gesellschaftlichen Leben, unscharfe Vorurteile über ebendiese Störungsbilder und davon Betroffene und fehlende Erfahrung sowie mangelndes Wissen zu dem Thema.

All diese Aspekte erschweren es nicht nur Betroffenen, sich entsprechende Unterstützung oder Hilfe zu suchen und sich als Teil unseres Gesellschafts-Etwas zu begreifen. Auch „gesunden“ Menschen bleibt dadurch der Zugang zu mehr Verständnis, Empathie und Akzeptanz verwehrt.

Das Leben ist bunt und chaotisch und strotzt nur so von Unterschiedlichkeit und Polarität.

Wenn du das nächste Mal deine Freund:innen fragst, wie es diesen geht, erlaube ihnen, ehrlich zu antworten.

Dieser Artikel kann nicht alle Facetten dieses sehr komplexen Themas abbilden. Er dient zur Bewusstwerdung über die Problematik des Unwissens und der Ausgrenzung gegenüber psychischen Erkrankungen und soll zur weiteren Information über und Reflexion zu diesem Themengebiet anregen.

Weiterführende Infos:

Basisdaten psychischer Erkrankungen der dgppn (Stand: Januar 2022)

Psychotherapeut Thorsten Padelberg über Depressionen — „Nicht jedes psychische Problem ist gleich eine Krankheit“

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