Die ungeschriebene Bib-Etiquette

Ersties brauchen Wochen, Monate, wenn nicht sogar Semester, um sie zu entziffern: die berühmt-berüchtigte Uni-Bib. Aber was besagt die ungeschriebene Bib-Etiquette und was verrät dein Bib-Platz über dich? Damit du dir die Prokrastinations-Eskapaden sparen kannst, verrate ich dir direkt, welcher Bib-Typ du bist.

Im Moment herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Es haben sich lediglich ein paar verzweifelte Jura-Studierende in die Bibliothek der Universität Konstanz – von den Studis liebevoll „Bib“ genannt – verirrt. Doch spätestens im Juli, wenn sich ganz leise das schlechte Gewissen meldet und die Studierenden dazu auffordert, Schwimmreifen gegen Laptop und Aperol gegen Karteikarten zu tauschen, geht sie wieder los: die halbjährliche Völkerwanderung in die Bib.

Bevor aber am Freitagabend Zelte aufgeschlagen werden, um samstags um 8:00 Uhr pünktlich über die Startlinie in den Irrgarten von Tischen, Stühlen und Büchern zu sprinten, lasst uns einen Blick auf die ungeschriebene Bib-Etiquette werfen, und darauf, was dein Bib-Platz über dich aussagt.

Die Urlauber:innen

Mit der Uni-Bib ist es so eine Sache. Man hasst sie, oder man liebt sie. Wer eine starke Aversion gegen das riesige Symposium aus Räumen und Etagen hat, mag argumentieren, sich durch die anderen Studis abgelenkt zu fühlen. Aber papperlapapp, Reden ist in der Bib strengstens untersagt! Außer natürlich, du musst selbst ein paar Worte mit der oder dem Nebensitzenden austauschen, dann ist es unumgänglich. Und wenn der kurze Wortwechsel doch zu einem kleinen Teekränzchen ausartet, braucht sich die oder der andere Sitznachbar:in erst gar nicht zu beschweren; darf man denn gar keinen Spaß mehr haben?

Das gleiche gilt natürlich für das Reservieren von Plätzen: Unerhört, wer sich erlaubt, seinen Platz wie ein:e Mallorca-Urlauber:in für mehrere Stunden zu reservieren, ohne aufzutauchen. Aber wenn die eigene Mittagspause ausufert, war es nur eine Ausnahme. Immerhin warst du ja morgens zuerst da.

Bibfluencer:innen und Dracula

Die Bib-Fetischist:innen wiederum sind der felsenfesten Überzeugung, nichts helfe ihrer Produktivität so sehr wie die unantastbare Bib-Atmosphäre. Aber bist du dir da sicher, oder hast du nach einer Stunde akribischen Texteunterstreichens doch nur noch das Sehen-und-gesehen-werden auf Etage sechs der Jura-Bib genossen? Die Arbeitseinstellung wie auch die Mimik der Studis verändert sich schlagartig, wenn sie die Treppen runter gehen, vorbei am gläsernen Abdach, das die Plätze darunter im Sommer in eine Art Multitasking-Sauna transformiert. Wer hier im Keller sein elendes Dasein fristet, hat jeglichen Lebenswillen schon bei den Schließfächern verloren und straft sich selbst mit einer Existenz ohne Tageslicht, bis auch die letzte Formel gelöst ist.

Der Kindskopf

Setzen wir unseren Spaziergang nun fort in eine andere Ecke des Kellers, auch gut erreichbar über die Treppe hinter dem Bib-Café.

Rote Sessel, bunt bemalte Wände mit riesigen Motiven und winzige Holztische, abgetrennt durch hauchdünne Holzwände, damit auch ja niemand abschreibt, erinnern an die eigene Vorschulzeit. Vielleicht hat die Uni die Inspiration für die Wandbemalung vom Kinderhaus vor dem D-Gebäude abgezapft, oder der Bereich war ursprünglich dem Fachbereich Malen-nach-Zahlen vorbehalten. Hier besteht die größte Ablenkungsgefahr durch das vorprogrammierte Déjà-vu zum Spieleparadies, das du früher zum Kindergeburtstag besucht hast. Wen das Bulimie-Lernen in die Verzweiflung treibt, kann leider trotzdem nicht seine Mama über einen Lautsprecher rufen lassen. Schade.

Wahre Feinschmecker:innen und Tunichtgute

Aber nicht jeder schafft es überhaupt bis zum Indoor-Spielplatz. Die wahren Genießer bleiben schon am Bib-Café hängen und leben mit einem Cappuccino beim Swipen, ähh Schreiben, das Dolce Vita – wo ginge das auch besser als in einem Café ohne Fenster? Im Austausch für den Mangel an Sonnenschein spielt das Gewissen dafür mit, weil jeder der hier sitzt, plant, „jede Minute“, „sofort“, oder „direkt nach dem Kaffee“ wieder an die Arbeit zu gehen. Denn zu Getränken ohne Deckel am Arbeitsplatz würde sich unter den wachsamen Augen der KIM-Mitarbeiter:innen, die beim Anblick eines Getränks blitzschnell zu knallharten Türstehern mutieren, natürlich niemand wagen. Außer einer Hand voll Tollpatsche, die ihre Recup-Deckel zum fünften Mal verloren haben und das Getränk durch die Drehtür schmuggeln.

Highperformer:innen und Plaudertaschen

Mit wachsender Etagennummer wächst auch die Ambition und irgendwann steht im Lesesaal. Mit seiner langen Tafel sieht er einem Konferenzraum im Spitzenunternehmen verblüffend ähnlich – und versprüht auch dessen Flair. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Ein feines Knistern aus Spitzenambitionen und stillem Konkurrenzgeist erfüllt den Raum. Im Duell auf Augenhöhe befindest du dich in einem unausgesprochenen Wettkampf mit der oder dem Gegenübersitzenden. Verloren hat, wer zuerst nicht mehr dem Anschein standhalten kann, pausenlos effizient zu arbeiten. Dabei ist es so verlockend, einfach die Treppe eine Etage nach unten zu nehmen, und sich einen gemütlichen Gruppenraum mit grünem Teppichboden zu suchen. Bonuspunkte für einen Sessel, einen Sitzsack oder eine Tafel. Ein Sternchen, wenn es dazu noch funktionierende Marker gibt. Einziges Manko – neben der Verlockung, aus der Lerngruppe einen Kaffeklatsch zu machen – ist die Fixverglasung. Hiergegen punkten die Gruppenräume mit rotem Teppichboden und aufstellbaren Fenstern in der Jura-Bib. Hat man es aber zu der ellenlangen Front mit Gruppenräumen geschafft, an denen man vorbeigeht wie an lebensgroßen Puppenstübchen, kann man bei gutem Wetter einen Panoramablick auf die Berge genießen. Wenn das dem Motto „Studieren, wo andere Urlaub machen“ mal nicht gerecht wird. Wäre die Bib ein Hotel, würde man hier einen Aufpreis zahlen.

Natürlich ist der kleine Rundgang, den wir unternommen haben, lückenhaft. Dafür hat die Uni-Bib viel zu viele versteckte Treppen und Plätze, die neue Studis manchmal erst nach zwei Semestern durch Zufall zu Gesicht bekommen. Im Moment herrscht noch freie Platzwahl, um alle Orte mal zu testen, bevor die Bib wieder so überfüllt ist, dass am Wochenende das Toilettenpapier ausgeht. Es hält sich aber auch hartnäckig das Gerücht, dass der Grund hierfür gar nicht die Scharen an Bib-Besucher:innen sind, sondern panische Studierende aus den Wohnheimen Sonnenbühl-Ost- und -West, denen sonntags das Toilettenpapier in der heimischen WG ausgeht.

Zu guter Letzt wäre da noch die N-Bib – ein ungeklärtes Mysterium. Für alle Normalsterblichen, die in der Schule nicht gut genug in Chemie aufgepasst haben, um ein naturwissenschaftliches Studium anzustreben, wird es sich vielleicht niemals klären.

Über die besten geheimen Bib-Plätze mag es Kontroversen geben, aber bei einem werden sich die Studis doch schnell einig: am liebsten sitzen wir immer noch im Uni-Biergarten.

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