Toleranz im Alltag: Kulturelle Vielfalt in WGs und wie sie mit Freiheit zusammenhängt

Wahrscheinlich haben alle Studierenden in ihrem Leben mindestens einmal in einer WG gelebt. Manche finden dort wahre Freunde, einige zukünftige Kollegen, andere die Liebe ihres Lebens, von der sie sich nie wieder trennen wollen. Aber läuft wirklich alles so gut? Schließlich kann das Zusammenleben mit Menschen, die man am Anfang kaum kennt, viele Herausforderungen im Alltag mit sich bringen. Vor allem, wenn man aus einer völlig anderen Kultur kommt. Auf welche Widersprüche stoßen benachbarte Studierende aus verschiedenen Kulturen und wie lösen sie mögliche Probleme?

Klopfen. Vor der Tür meines Zimmers steht meine Mitbewohnerin. Sie sieht ängstlich aus und kann kaum einen Satz zusammensetzen. Sie sagt mir verwirrt, dass ich keine männlichen Freunde unangemeldet zu ihr nach Hause einladen dürfe. Ich sehe sie rätselnd an und verstehe den Grund nicht, denn mein Zimmer ist meine Privatsphäre. Schließlich steht das in meinem Mietvertrag. Bevor ich das sage, folgt eine Erklärung: Meine Mitbewohnerin sei eine Hijab-Person, weshalb kein Mann sie ohne ihr Kopftuch sehen darf. Als sie Männerschuhe auf der Türschwelle sah, sei sie schockiert gewesen, und nachdem der Freund, der mich besuchte, das Badezimmer benutzt habe, könne sie es nicht mehr benutzen. Als ich wieder allein war, fühlte ich mich in meiner Freiheit verletzt, denn nun musste ich einer Person, die ich kaum kenne, jedes Mal berichten, wer wann mein Zimmer betritt. Andererseits ist die Freiheit meiner Mitbewohnerin, sich zu Hause wohlzufühlen, indem sie kein Hijab trägt, ebenso wichtig. Zufälligerweise sind unsere Freiheiten miteinander kollidiert. Doch was ist in einem solchen Fall zu tun? Auf der Suche nach einer Antwort wandte ich mich an andere Studierende, die mir ihre Geschichten vom Zusammenleben mit Menschen aus anderen Ländern erzählten.

Polina aus Russland lebt seit einiger Zeit in einer Vierer-WG in Deutschland. Illustration: Sofia Makarenko.

Das Beispiel der Polina aus Russland ist eher zweideutig. Sie sie lebt mit mehreren Deutschen in einer Vierer-WG. Einerseits waren ihre Mitbewohnerinnen immer nett zu ihr: Sie zeigten Verständnis, als Polina zu Beginn noch recht wenig Deutsch sprechen konnte. Ihre Mitbewohnerinnen achteten darauf, wie sie sich ausdrückten und halfen Polina beim Lernen für eine wichtige Sprachprüfung. In Russland ist es im Gegensatz dazu so, dass die Menschen in den meisten Fällen keinen großen Anteil am Leben ihrer Mitbewohner:innen nehmen. Andererseits erwies sich diese gesteigerte und manchmal ostentative Freundlichkeit für Polina als Herausforderung, wenn es um einfache Probleme im Zusammenhang mit der häuslichen Ordnung ging.

Die Widersprüche in der Haushaltsführung sind nach Polinas Meinung nicht darauf zurückzuführen, dass sie und ihre Mitbewohnerinnen aus unterschiedlichen Kulturen stammen. Gleichzeitig hängt die Art und Weise, wie diese Probleme gelöst werden, von der Gesellschaft ab, in der man aufgewachsen ist. Als Beispiel ist die Hausordnung, der oft Widersprüche fördert. Manche Mitbewohnerinnen haben, anders als Polina, eine ganz andere Vorstellung davon, was im Rahmen der Haushaltsführung akzeptabel ist und was nicht. Das kann jede:m passieren. Der einzige Ausweg ist der Dialog. Das ist eher selbstverständlich. Aber es wird mehrmals kritisiert, dann mit einer sehr netten Antwort und dem Versprechen, die Situation zu verbessern, beantwortet. Am Endeffekt hat sich nichts wirklich geändert. Als Polina schließlich die Geduld verliert, sagt sie geradeheraus mit etwas lauterer Stimme, alle Formalitäten beiseitelassend, dass dies so nicht weitergehen könne. Eine der Mitbewohnerinnen betrachtete dies als Zeichen von Aggression, was nicht der Fall gewesen sei. Polina erklärt, dass in slawischen Kulturen ein solches nettes Verhalten bei der Lösung von Konflikten nicht üblich ist. Eine Person wählt keine Wörter und ihre Intonation sorgfältig aus. Man bevorzugt lieber unhöflich zu wirken, als Formalitäten zu folgen. Es ist wahrscheinlicher, dass Menschen in Russland direkt sagen und zeigen, dass etwas nicht stimmt. Und die eigene Stimme zu erheben, ist überhaupt kein Ausdruck von Aggression. In Deutschland sei es anders. Offensichtlich geht es hier um ein interkulturelles Missverständnis.

Abdullah erzählt im Interview vom Zusammenleben mit verschiedensten Kulturen. Illustration: Sofia Makarenko.

Erfahrungen im Umgang mit Vertreter:innen anderer Kulturen hatte auch Kurde Abdullah aus dem Irak. Er lebt mit und Menschen aus Syrien und Nigeria in einem Asylheim und arbeitet mit Deutschen, Albanern und Filipinos zusammen. Abdullah glaubt, dass die Probleme, die er beim Zusammenleben sieht, wenig mit der Kultur zu tun haben. Dabei handelt es sich eher um zwischenmenschliche Missverständnisse, die beispielsweise durch unterschiedliche Lebensrhythmen entstehen: Abdullahs Mitbewohner aus Nigeria hört nachts gerne Musik, aber Abdullah bevorzugt es zu schlafen, da er morgens arbeiten muss. Niemand weiß genau, warum der Mitbewohner trotz Kritik in seine Richtung weiterhin gegen die Hausordnung verstößt. Aber während des Gesprächs mit Abdullah entstand die Idee, dass es vielleicht um folgenden geht: Vertreter:innen verschiedener Kulturen nehmen die Regeln als solche unterschiedlich wahr. Nur wenige Länder sind für ein so hohes Maß an Pedanterie ihrer Bürger bekannt wie Deutschland.

Dazu berichtet Abdullah auch Geschichten seiner Bekannten, wie diese Pedanterie von manchen Deutschen nicht immer verhältnismäßig sei. Als ein Bekannter von ihm einen Fehler bei der Mülltrennung machte, rief sein Nachbar, ohne das Problem zunächst persönlich angesprochen zu haben, sofort die Polizei. Als er bei der Arbeit einen kleinen Fehler machte, meldete sein Kollege ihn sofort als Verstoß in den Computer, obwohl der Fehler keine Folgen hatte. Laut Abdullah sei ein solches Verhalten nicht notwendig, da ein einfacher Dialog zwischen Menschen ausreiche, um diese beiden Probleme zu lösen: „Jeder macht Fehler. Das kann jedem passieren.“

Was rein interkulturelle Missverständnisse angeht, erzählt Abdullah folgende sehr aufschlussreiche Geschichte: „Eines Tages sah ein Deutscher einen Ausländer auf der Straße auf den Boden spucken, kam auf ihn zu und nahm ihn am Kragen. Er drückte seine Unzufriedenheit darüber aus, dass dieser Ausländer dadurch seine Respektlosigkeit gegenüber Deutschland zum Ausdruck brachte.“ Abdullah erklärt, dass das Spucken auf den Boden nichts mit dem Mangel an Respekt zu tun habe. Dieser Mensch würde das Gleiche in seinem eigenen Land tun – er empfindet das Spucken nicht als etwas Negatives. In diesem Fall kollidierten also zwei Normen, zwei unterschiedliche Vorstellungen darüber, was akzeptabel und was unakzeptabel ist.

Auf die Frage, ob er seine Freiheit in irgendeiner Weise einschränken musste, um tolerant zu bleiben, antwortet Abdullah, dass er das jeden Tag tue. Dies scheint ihm nicht schwerzufallen, weil seine Anpassungsfähigkeit sehr gut sei. Gleichzeitig könne jemand anderes natürlich Herausforderungen dabei treffen. Abdullah ist überzeugt, dass Einwanderer:innen sich anpassen sollte, die in der Minderheit sind, und nicht die über achtzig Millionen Bürger Deutschlands: „Ich muss derjenige sein, der sich integriert“. Selbstverständlich habe jeder das Recht, seine kulturellen beziehungsweise religiösen Besonderheiten zu praktizieren, solange er die Grenze nicht überschreitet: „Jeder macht, was er will, solange er niemand anderen schadet.“

Elena aus Deutschland sammelte viele schöne Erfahrungen während ihrer Zeit im Wohnheim. Illustration: Sofia Makarenko.

Während ihrer Zeit bei Seezeit hat Elena aus Deutschland Menschen aus verschiedenen Ländern wie Marokko, Korea, Frankreich und Russland kennengelernt. Im Gegensatz zu Polina hat sie gar keine Meinungsverschiedenheiten mit ihren Mitbewohnerinnen über die Hausordnung getroffen: „Es war irgendwie total glücklich.“ – kommentiert Elena ihre Erfahrung beim Zusammenleben in einem Seezeit-Wohnheim „Seerhein“.

Über den interkulturellen Dialog spricht Elena mit einem Lächeln und erzählt interessante Geschichten. Zum Beispiel über ihre marokkanische Mitbewohnerin. Sie liebte das Kochen, deshalb trafen sich die beiden oft in der Küche und unterhielten sich dabei. Ihre Mitbewohnerin lud Elena (die Vegetarierin ist) häufig dazu ein, bei ihr mitzuessen. Jedoch enthielten die Gerichte oft Fleisch, was in der marokkanischen Tradition durchaus üblich ist. Elena merkt an, dass für ihre marokkanische Mitbewohnerin der Vegetarismus etwas Neues war, da in Marokko nur wenige Menschen einem solchen Ernährungsstil folgen. Trotz aller Unterschiede haben sich die Mitbewohnerinnen super verstanden.

Das war nicht die einzige Besonderheit beim Zusammenleben mit Vertreterinnen anderer Kulturen. Elena stellt außerdem fest, dass die Kommunikation mit Menschen, die eine andere Muttersprache haben, etwas mehr Aufwand erfordert. Beispielweise war es für Elena am Anfang etwas schwieriger, mit ihrer Mitbewohnerin aus Marokko zu reden, da sie frisch nach Deutschland gezogen war und dabei war, Deutsch und Englisch zu lernen. Man brauchte mehr Zeit, musste etwas langsamer sprechen und „alle Mitbewohnerinnen mussten sich darauf einlassen“, sagt Elena. Sie ist aufmerksam gegenüber ihrer Mitbewohnerin geworden und hat sie verständnisvoll behandelt. Im Laufe der Zeit ist es allen Mitbewohnerinnen im Laufe der Zeit gelungen, eine gemeinsame Sprache zu finden.

Auf die Frage, wie verschiedene Kulturen auf so kleinem Raum wie einer WG koexistieren sollten, hat Elena eine grundlegende Antwort: „Jeder darf an seiner eigenen Kultur festhalten, auch wenn er in ein anderes Land zieht“. Natürlich können auch Probleme zustande kommen, wenn, wie in meinem Fall, zwei Freiheiten kollidieren. Laut Elena sollten in diesem Fall alle einen Schritt nach vorne machen: „Toleranz geht nur, wenn beide Seiten Rücksicht aufeinander nehmen.“

Was soll ich also in meiner Situation tun?

Sollte ich die Besuche meiner Freunde im Voraus planen und meine Mitbewohnerin jedes Mal darüber informieren, wenn sie die Toilette benutzen möchten? Oder sollte ich die Kommunikation mit Männern komplett ausschließen? Wird das der einzige Weg sein, tolerant zu bleiben? Natürlich nicht. Damit Toleranz gedeiht und jede von uns sich zu Hause fühlt, müssen wir beide Kompromisse eingehen. Es kostet mich nichts, ihr eine SMS zu schreiben, wenn meine Freunde ins Wohnheim kommen. Es kostet sie nichts, einen Hijab zu tragen, bis sie nach Hause gehen. So funktioniert Toleranz – jeden Tag kleine Kompromisse, die einen großen Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft leisten.

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