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Wenn Kinder Genderstereotype internalisieren
Mein Freund und ich spielen mit meinem vierjährigen Neffen und seinem Piratenschiff. Er hat viele kleine Playmobil-Figuren in bunten, halb zerrissenen Piratenklamotten, mit Stoppelbärten, Augenklappen, Kopftüchern und Pistolen. Alle sind eindeutig männlich designt – bis auf eine. Mein Freund nimmt diese und stellt sie mit den Worten: „Das ist die Steuerfrau“ hinter besagtes Steuerrad. Mein Neffe blickt ihn mit großen Augen an und ruft empört: „Nein, das ist die Köchin!“ An einem anderen Tag sitze ich mit ihm am Küchentisch. Vor uns eine große Schüssel Erdbeere – die isst er an sich gern. Aber wenn andere Leute dabei sind, schreit er, dass er das sicher nicht mag, weil: „Ich bin doch kein Mädchen!“
Mein Neffe ist damit kein Sonderfall. Dass Kinder schon sehr früh genderstereotype Ansichten und Verhaltensweisen internalisieren, geschieht häufig und ist eher die Regel als Ausnahme. Der Grund dafür ist nicht immer unbedingt (nur) im elterlichen Haushalt zu finden, sondern im erweiterten sozialen Umfeld wie Kindergarten, Nachbarskinder und auch weitere Verwandte oder Bekannte, deren Gedanken selbst in alten Rollenbildern verhaftet sind. Diese prägen die Sicht von Kindern auf die Welt – und die Einteilung der Menschheit in zwei Geschlechter, denen Bestimmtes zugeschrieben wird. Bei mir begann die gegenderte Zuschreibung von Eigenschaften schon, als ich noch nicht einmal auf der Welt war. Die Ärztin meiner Mutter meinte beim Ultraschall, weil ich mich viel bewegte: „Entweder wird das ein wildes Mädchen oder ein ordentlicher Junge.“ Meine Mutter war mit dieser Aussage ganz und gar nicht einverstanden und fasste den Entschluss einer genderneutralen Erziehung –oder zumindest soweit es in ihrer Macht stand. Sie kaufte mir Kleidung in allen möglichen Farben und mit den unterschiedlichsten Motiven. Ich spielte mit Rennautos, Legosteinen, Polly Pocket-Figürchen und Barbies, die ich zu meinem Lieblingsszenario, der „Einbrecher-Barbie“, zusammenführte. Ich sah weder Lego als männlich an noch Barbie als weiblich. Für mich waren sie Vehikel, um meine Fantasie vom gefährlichen und glamourösen Verbrecher:innendasein auszuleben. Gegenüber meinen Freund:innen, die behaupteten, eine Hochzeit finde zwischen Mann und Frau statt, verteidigte ich meine Meinung. Es würden sehr wohl auch Frau und Frau oder Mann und Mann einander heiraten können und ich werde eines Tages meine beste Freundin ehelichen, wenn ich überhaupt heiraten würde, weil eigentlich fände ich das alles total doof und ich wolle lieber mit meinen Sirenen-Autos auf einem Reiterhof am Meer leben und den ganzen Tag Erdbeeren und Kirschen essen. Gleichzeitig hatte ich mit zwei Jahren erkannt, dass fremde Leute freundlicher zu mir waren, wenn ich pinke Oberteile und Kleider mit Blümchenprint trug, als meine coole Baggyjeans, die so super geeignet fürs Klettern auf dem Spielplatz war, und die graue Puschel-Mütze, in der meine Ohren so angenehm warmhielten. Somit musste sich meine Mutter jeden Morgen mit einer Schreiattacke meinerseits auseinandersetzen, wenn ich nichts in der Farbe Rosa oder einem ähnlichen Ton anziehen durfte. Im Kindergarten mussten die Mädchen eines Tages Spiegel und die Jungs Schwerter basteln. Dabei entbrannte ein großer Streit zwischen den Betreuer:innen und mir, weil ich unbedingt das Schwert machen wollte. Was sollte ich auch mit einem dummen Spiegel? Long Story short: Meine Mutter war empört, als ich ihr das erzählte und sie kaufte mir daraufhin ein Spielzeugschwert, das ich bei der Fastnachtsfeier stolz mit in den Kindergarten nahm.
Worauf ich mit diesen Ausführungen hinaus möchte? Ich hatte viele Personen in meinem Umfeld, die mit ihrer Haltung und ihrem Verhalten großen Einfluss auf mich hatten. Jedoch scheine ich auf gewisse Art und Weise gefiltert zu haben, welchen Gedanken und Sprüchen ich mehr Aufmerksamkeit und Gehör schenken wollte und welchen weniger. Kinder sind neugierige Wesen und wollen stets Neues lernen und erfahren. Dazu gehört auch das Erforschen von Sichtweisen der Menschen in ihrem Umfeld und die Erfahrung, wie unterschiedliches Aussehen, Kleidung und Verhalten den Eindruck, den Menschen von einem bekommen, verändern können. Ich wollte als Kind beliebt sein. Ich wollte gemocht werden. Doch eigentlich wollte ich vor allem das machen, was mir Spaß macht. Ich bin nach wie vor unglaublich froh darüber, dass meine Familie mich darin unterstützt hat und ich mich entfalten konnte – nicht unberührt von Genderstereotypen, aber bereichert um weitere Perspektiven. Und das ist genau das, was ich mir wünsche, dass wir unseren Kindern mitgeben. Es wird noch lange dauern, bis wir in einer Gesellschaft leben, in der Genderstereotype Menschen nicht mehr einschränken, weil sie sie nicht mehr von klein auf internalisieren. In einer Welt, in der Blau nicht mehr männlich und Pink nicht mehr weiblich konnotiert wird. In der Kinder nicht mehr zu Hobbys gedrängt werden, die sie gar nicht haben, nur weil es sich für ihr Geschlecht „gehört“. In der „das Weibliche“ nicht abgewertet wird durch Sprüche wie: „Das ist nur was für Mädchen. Das ist eklig!“
Zurück zu meinem Neffen: Wir haben angefangen, mit ihm darüber zu diskutieren, dass sehr wohl auch die Frau das Schiff steuern kann. Geendet hat es in einer riesigen Seeschlacht, in welcher Haie die gesamte Crew verspeisten. Dennoch scheint er danach etwas entspannter gegenüber der steuernden Piratin zu sein. Erdbeeren isst er inzwischen ohne Geschrei, weil er doch zugeben kann, dass sie einfach lecker sind. Was uns bleibt, ist zu versuchen, dem Kind eine Alternative zu seiner stereotypisch gegenderten Weltsicht zu bieten. Eine, in der alle alles (machen) können und niemand zu etwas gezwungen wird, was die Person nicht machen möchte. Denn mit Autos zu spielen, nur weil er ein Junge ist, macht auch meinem Neffen kein Spaß. Deswegen bauen wir jetzt gemeinsam das Puppenhaus auf – und da steht, wie auch in seiner Lebensrealität, der Vater am Herd.