Über das Leben und Überleben: Einblicke in eine Elfer-WG

Es ist ein Mittwochnachmittag, Adrian wäscht sich nichtsahnend in der Küche die Hände. Plötzlich spürt er hinter sich einen Luftzug. Er dreht sich um. Hinter ihm Clemens und Joscha, die Wasserpistolen auf ihn gerichtet, posierend wie das Pulp Fiction Cover nicht schöner aussehen könnte.

„Hände hoch!“

Adrians Blick bleibt nicht lang erschrocken. Er schnappt sich eine Wasserpistole, die neben dem Waschbecken liegt und los geht die wilde Wasserschlacht.

Mit vor Hunger laut knurrendem Magen komme ich zuhause an und freue mich auf die Reste von meinem Mittagessen, die in der Küche auf mich warten. Ich parke mein Fahrrad neben einem der sechs anderen, die schon damit angefangen haben, jegliche Durchgangsmöglichkeiten vom Gehweg zur Terrasse zu versperren.

Nur sechs Fahrräder – ich frage mich, wo wohl alle sind. Vielleicht haben sie einen Spaziergang zu dem Hügel gemacht, der dem Engelsteig als ein Stammausflugsort dient. Mit Schwung drücke ich gegen die Terrassentür, die immer offen ist, weil immer jemand in der Küche ist. Mit Schwung renne ich gegen die Tür. Sie ist zu. Unvorstellbar, dass niemand da sein soll. Ich gehe also außen rum, mit Transponder durch die Haustür rein und fühle mich seltsam dabei, so einsam.

Dieses Gefühl der Einsamkeit verwandelt sich schlagartig in Ärger, als ich die Schüssel, in der einst mein Maultaschensalat war, mit einem kläglichen Rest darin auf dem Küchentresen stehen sehe. Ich sehe das Szenario vor mir:

„Oh, das sieht aber lecker aus! Ich probiere nur ein kleines bisschen, das fällt niemandem auf.“

Und das neunmal hintereinander – die zehnte Person nascht nicht mehr, denn dann wäre die Schüssel leer und sie müsste sie abwaschen. Ich wäge Kosten und Nutzen ab, hänge einen Zettel „Für alle“ an den Maultaschensalat und gehe hoch in mein Zimmer.

Adrian kommt mit seinem Wäscheberg in die Küche und ruft in Clemens Zimmer:

„Ey wie ist nochmal die Einstellung von der rechten Waschmaschine, dass die nicht komplett eskaliert?“

Clemens:

„Ey ne, die geht gar nicht mehr, die ist komplett kaputt.“

Alle in der Küche schauen sich schockiert an.

„Was?“

Doch da stürmt Clemens schon mit seinem Wäscheberg an Adrian vorbei in den Waschkeller.

Willkommen in einer Elfer-WG. Elf verschiedene Menschen auf ihren eigenen Wegen, die sich regelmäßig in der Küche des rot-weißen Fachwerkhauses kreuzen. Einer Küche, die niemals schläft, weil sie Zeugin und Austragungsort von elf verschiedenen Alltagsleben und Gewohnheiten ist.

Die letzten gehen nach der Nachtschicht um drei oder vier ins Bett, die ersten stehen um sechs Uhr auf zum Arbeiten. Diversität von vorn bis hinten. Während Eli oben in seinem Zimmer Techno auflegt, übt Adrian Vibraphon in seinem Zimmer. Die musikalische Grunduntermalung wird zerrissen von Chris ́ und Joschas Geschrei beim Zocken, was Lea nicht bei der Gartenarbeit stört, weil sie mit Gabriel in intensive Diskussionen über große und kleine Fragen des Lebens vertieft ist.

Veganer_innen und Lidl-Tiefkühlfleischkonsument_innen leben zusammen mit Christ_innen und Atheist_innen. Es wird viel diskutiert doch meist mit der Einigkeit darin, dass man sich nun einmal uneinig ist. Nur an den Punkten größter persönlicher Relevanz hört der Frieden auf, es wird mit der Faust auf den Tisch gehauen und die Nerf-Gun ausgepackt. Bei Gabeln in Teflonpfannen zum Beispiel. Oder wenn die Musikanlage nach der Benutzung nicht ausgeschalten wird.

Adrian, Lea und Helen sitzen in der Küche. Plötzlich kommt ein Wirbelwind in Form von Clemens und Chris aus Clemens ́ Zimmer gestürmt und fliegt ineinander verschränkt durch die Küche. Während sich die beiden noch gegenseitig am Ärmel zurückziehen, springen sie auch schon mit einem Satz über das Sofa und man hört nur noch lautes Gepolter die Treppen hinauf jagen. Nach ein paar Minuten kommen die beiden gemächlich wieder zurück geschlendert.

„Ging nur darum wer unten aufs Klo gehen darf und weniger Treppen laufen muss.“

Ich habe immer noch Hunger und beschließe einen Ausflug zum Dönerladen zu machen, um das Kochen zu vermeiden. Ich komme in die Küche. Diese hat sich innerhalb der letzten halben Stundeschlagartig gefüllt und ist plötzlich voller Menschen.

Theresa ist gerade vom Klettern nach Hause gekommen und steht noch in der Tür, von wo aus sie sich mit Helen unterhält, die gerade im Garten von einem Schläfchen erwacht ist. Clemens jongliert mit Schokoküssen und versperrt Iris, die durch zum Wasserkocher möchte, um sich grünen Tee zu machen, den Weg. „Leon!“, werde ich empfangen.

„Das Essen ist gerade fertig, magst du mitessen?“

Und so setze ich mich unverhoffter Weise an einen gedeckten Tisch. Es ist ein Geben und Nehmen. „Nein, du hast es nicht verstanden“, korrigiert mich Joscha:

„In diesem Haus muss man Nehmen und Nehmen.“

Nehme ich mal so hin.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Related Posts
Lesen

Das Post-geisteswissenschaftliche Leben: Theoretiker:innen in der Praxis

Ich studiere Literatur-Kunst-Medien. Beziehungsweise studierte: Ab März trete ich nach 6,5 Jahren weiterführendem Masterstudium eine Vollzeitstelle in einem wirtschaftlichen Konzern an. In meinem letzten Artikel für die Campuls möchte ich erzählen, wie ich es geschafft habe, mich trotz oder vielleicht auch dank geisteswissenschaftlicher Ausbildung zwischen Theorien, Analysen und philosophierenden Vorlesungen in der Industrie zu etablieren und eine Karriere fernab Goethe und Picasso in der IT-Branche zu beginnen (beziehungsweise fortzusetzen).
Zimmer mit Bett
Lesen

Ein Zimmer für sich allein: Drei Jahre, vier Länder, sechs Wohnungen

„Ein Stuhl, ein Tisch, eine Lampe.“ So beginnt der erste Satz des zweiten Kapitels im Roman ‚Der Report der Magd‘ von Margaret Atwood, das ich letztes Wochenende angefangen habe zu lesen. Ich blicke mich im Zimmer um, in dem ich gerade lebe: eine kleine, schwarze Couch, ein hellblau gestrichener Schreibtisch, Ikea-Schrank mit wackliger Kleiderstange. Ich liege mit dem Laptop auf meinem Bauch auf einem schmalen 90 x 200 cm Bett. Ein Zimmer für mich allein. Mehr brauchte ich nicht während meines Praxissemesters, dachte ich. Aber nichts hier in diesem Raum, außer meinen mitgebrachten Büchern und Klamotten, gehört mir.