Reise
Nach 12 Stunden Zugfahrt, erst durch Kopenhagen, wo die Kontrolleur_innen mit Gasmasken die Ausweise inspizieren – à la „bleibt bloß nicht in Dänemark!!!“ – über die schwedische Grenze. Schon eine geschlossene Freundschaft mit einer anderen Erasmusstudentin die auf dem Weg nach Umeå ist. Und plötzlich steigen die Menschen ein, ohne Masken. Nach zwei Stunden Fahrt kommt man sich schon albern und übertrieben vor mit der FFP2 Maske, Corona existiert hier offensichtlich nicht. Willkommen in Schweden!
Ankommen
Im nächsten Zug steigen zwei Studierende zu, die zufällig in dasselbe Wohnheim müssen. Die Angst, in Stockholm verloren zu gehen und das neue Zuhause nicht zu finden (im Nachhinein betrachtet auf jeden Fall unbegründet) ist weg und die Schlüssel zum überteuerten Wohnheimzimmer können gemeinsam an der Uni abgeholt werden. Im stockdunklen Stockholm, genauer gesagt der Stockholmer Uni, sind die Wege mit Fackeln abgesteckt, um die Studierenden zu empfangen.
Ab nach „Lappis“, mit 12 Mitbewohner_innen auf dem Korridor und geteilter Küche, Gummizellenbad und einem Zimmer, das schon lange nicht mehr modern ist. Der erste Einkauf im schwedischen Supermarkt (Sonntags um 22 Uhr), weil die Supermärkte hier jeden Tag bis spät abends geöffnet haben. Da kann Kaufland einpacken. Allerdings nicht bei den Preisen: eine einzige Zucchini, die ich dann beschließe, nicht zu kaufen, kostet drei Euro. Was im ersten Moment vollkommen irritiert, ist eigentlich logisch. Klar kostet Obst und Gemüse im Winter mehr, weil es einfach nicht natürlicherweise wächst. Dementsprechend aber auch ganz schön schwierig, sich Vitamine zuzuführen, weil
Sonnenlicht sieht man „da oben“ ja bekannterweise auch erst einmal nicht viel.
Im Frühling und Sommer gibt es die Zucchini dann auch für 30 Cent pro Stück und der Geldbeutel ist wieder ein bisschen voller. Trotzdem sind Lebensmittel einfach teurer in Schweden, wo der Erasmus-Höchstsatz leider auch nicht mithalten kann. Deswegen hieß es für mich: Immer zu Lidl und wenig Essen auswärts Essen gehen. Abgesehen davon, gibt es vor allem in der Uni studierendenfreundliche Preise und in jedem Café Kaffee ohne Limit. Das führt jedoch zu Koffeinschocks und zittrigen Händen, weil man nimmt ja, was man kriegen kann für das eigene Geld! Die fairen Preise sind für Kaffee zumindest hier nicht sonderlich erstaunlich, denn Schwed_innen lieben Kaffee (um kurz die Klischees zu bedienen). In den drei- bis vierstündigen Seminaren gibt ebenfalls drei bis vier Kaffeepausen und nach der Uni geht es zur „Fika“ in die Stadt.
„Fika“ bedeutet eigentlich „Kaffee und Kuchen“, „Teestunde“, „Kaffee trinken“.
Aber wie in Stockholm gesagt wird, ist Fika ein Lifestyle, und irgendwie – so doof das klingt – stimmt das auch. Es wird sich explizit dafür getroffen, überall gibt es Fika-Angebote und ein Tag ohne Fika war auf jeden Fall trauriger als einer mit. Darin inbegriffen sind „Kaffe“ und entweder eine „Kanelbulle“ (was einfach eine Zimtschnecke ist, aber irgendwie besser), der „Morotskaka“ (Karottenkuchen, aber es sagt sich so schön), oder der traditionelle „Chokladkladkaka“. Im Café dann der schwedische Enthusiasmus, melodische Unterhaltungen und die immer höfliche und zuvorkommende Art.
Gewohnheiten
Nach dem ersten Eingewöhnen werden die Tage zwar schon länger, aber sind immer noch so kurz im schwedischen Winter, dass das Energie-Level teilweise echt schwach wird. Um zehn Uhr wird es hell und um 15 Uhr geht die Sonne wieder unter? Gefühlt ist ab Sonnenuntergang für fünf Stunden Abendessen-Hunger angesagt und die Müdigkeit muss unterdrückt, oder mit unendlich viel Kaffee runtergespült werden. Mit dem Wissen, dass es jeden Tag ein bisschen länger hell sein wird, wird die Stadt entdeckt, viel gelaufen und sich dann im Café von den Minusgraden erholt. Da die Museen zu Beginn meines Aufenthalts noch nicht geöffnet haben, wird viel Zeit in der Uni verbracht, die klassischen Corona-Spaziergänge gemacht und der erste Ausflug nach Lappland in den Polarkreis geht los. Bei -27 Grad Skifahren, Langlaufen, Rentiere füttern, am Feuer sitzen, Schneewanderungen und vor allem, sich nach all dem wieder aufwärmen. Ich hatte noch nie so viele Dinge übereinander an. Am letzten Abend ist der Himmel klar und die Polarlichter tanzen vor unserer Nase.
Das Gefühl, was für eine enorme Naturgewalt und Magie es dort gibt, ist überwältigend. Und gleichzeitig ein Gefühl von Schuld. Während wir da im Norden, zwar frieren, aber Nordlichter sehend, für wenig Geld in einer Hütte am Feuer sitzen können, wütet Corona über die Welt und so viele Menschen leiden. Das ist leider ein Gefühl, was oft aufkommt. Wie kann ich rechtfertigen, diese Zeit so genießen zu können? Natürlich halte ich, und die Menschen um mich herum, uns an die Regelungen. Irgendwann ist das schwedische Modell aber die eigene Realität und Corona rückt irgendwie in die Ferne.
Bleiben wollen
Umso besser aber, dass in Schweden eine so unglaublich schöne Natur vorzufinden ist und man den ja eh schon vergleichsweise wenig Menschen, die in diesem Land leben, aus dem Weg gehen kann. Wandern und Wildcampen im Nationalpark, Insel-Hopping durch das östliche Archipel, Fahrradtouren in und um Stockholm, die Badesaison bei null Grad Wassertemperatur eröffnen. Dann aber auch im Wohnheim den multikulturellen und internationalen Austausch genießen. Indisch kochen lernen, die „richtige“ italienische Pasta probieren, die beste Köttbullar-Soße selbst herstellen. Aus der deutschen Küche kann ich Obazda und Kartoffeln anbieten, Maultaschen gibt’s dort oben leider nicht.
Nach dem Semesterende im Sommer hatte das Land noch mehr zu bieten: an den größten See Schwedens fahren, der größentechnisch sogar das „Schwäbische Meer“ übertrifft, aber keine Bergkulisse zu bieten hat. Klettern direkt am Wasser, Gotlands Sandstrände, Felsenküsten, Drehorte von Pippi Langstrumpf abchecken. Dann die wieder eröffneten Museen entdecken, mit dem Zug für wenig Geld in andere Unistädte fahren und Linköping, Jonköping, Norköping, Köping-köping unsicher machen. Und genießen und bewundern, wie die Tage länger werden, die Sonne gar nicht mehr untergehen zu scheint und Lagerfeuer am Wohnheimstrand zur Gewohnheit werden.
Gehen müssen
Nach fünf Monaten, die anfangs so lang scheinen, sitze ich dann im Auto auf dem Weg nach Hause mit zwei Freundinnen, die mir bleiben werden, mit 1.800 Kilometer und 20 Stunden Reise vor uns. Zuhause angekommen wirkt die Zeit wie erträumt. Es hat sich nicht viel verändert – eine neue Kaffeemaschine gibt’s. Fika ist hier aber wieder „einfach nur“ Kaffee trinken und dazu ein „Teilchen“ essen. Im Supermarkt grüßen die Verkäufer_innen nicht mit Lächeln (um fair zu sein – unter der Maske kann ein schmales Lächeln untergehen) und freudigem „Hej Hej“ und „Öl“ (schwedisch für Bier) ist wieder Öl und kein Bier. Aber die Lust, wieder zurückzugehen und Schweden und Stockholm zu genießen, wird immer größer.