Im Zug. Endlich ganz viel Zeit für mein Buch, fürs Schreiben, für die Mütze an der ich seit gefühlt zwei Monaten stricke. Dafür, Freund:innen auf WhatsApp zu antworten (Ich bin immer noch kacke im mit Leuten schreiben) und zu planen, was ich eigentlich so machen möchte, wenn ich da bin. „Da“ heißt Göteborg, Oslo, Bergen und Berge irgendwo in Norwegen.
Der Zug ist ziemlich voll, daher sitze ich auf dem Boden, neben mir steht ein Kinderwagen. Ein Mädchen mit dunklen Löckchen sieht mich mit großen Augen an und greift nach dem Kugelschreiber in meiner Hand. „Okay“, denke ich, „unterstützen wir die junge Kunst.“ Ich halte ihr mein Tagebuch hin und sofort wird eine krakelige Linie auf dem Papier sichtbar. Wir malen gewissermaßen zusammen, weil ich das Buch mit etwas Druck gegen den Kuli halten muss, damit überhaupt eine Linie entsteht. „Schön“, denke ich.
In der Vergangenheit bin ich bereits allein losgezogen, um zu reisen. Die letzten Male, bei denen ich unterwegs war, habe ich allerdings immer Freund:innen besucht oder bin mit ihnen gemeinsam gereist. Ich habe Angst. „Unberechtigt und hysterisch“, denkt sich meine Ratio. „Aufregend und toll!“, ruft meine Abenteuerlust aus. Ich kann mich noch nicht ganz entscheiden.
Ich bin heute mit mir
„Ich gehe noch ein bisschen nach Schweden und Norwegen, bevor ich wieder nach Deutschland komme“, erzähle ich einigen Leuten, die wissen wollen, was ich nach meinem Erasmus in Dänemark mache. „Mit wem gehst du?“, erkundigen sich dann die meisten. „Mit mir“, antworte ich darauf. „Allein?“, fragen viele. Manche in sichtlicher Bestürzung, andere in Verwirrung oder bewundernder Anerkennung. „Nicht allein“, denke ich mir dann. „Ich hab‘ ja mich“.
Das ist es, was ich mir für diese Reise gewünscht habe. Mit mir sein. Zeit haben, die vergangenen Monate nachwirken zu lassen. Ein bisschen reflektieren ohne in „Psychoanalyse für Anfänger:innen“ überschnell drei Level auf einmal aufzusteigen. Üben, zu spüren wonach mir gerade ist und diesem Gefühl nachgehen Lernen, mit mir allein zu sein und mich damit okay zu fühlen.
Ich erwarte manchmal ganz schön viel von mir, das ist mir nicht neu. Trotzdem will ich diese Reise als eine Reise mit mir erleben, wie auch immer sich das gestalten möge.
Etwa zwei Wochen lang bin ich unterwegs, gar nicht so lange. Dennoch ist jeder Tag anders und durch das Erleben vieler verschiedener Gefühlslagen geprägt. Ich bin unterwegs mit leuchtenden und düsteren Gedanken. Ich fühle mich überfordert und gelangweilt, inspiriert und selbstständig. Ich empfinde mich als unentschlossen und bestimmt.
Ich will keine Zeit totschlagen. Ich will Zeit verbringen.
Nur, weil ich weggehe, gehen meine Unsicherheiten nicht gleichermaßen weg.
Nur, weil ich allein gehe, heißt das nicht, dass ich immer mit mir klarkomme und mir zu helfen weiß.
FOMO oder fühlen, was ich brauche?
An meinem letzten Tag in Oslo geht es mir gut, ich fühle mich entspannt und zufrieden aber auch schon ziemlich voll von Eindrücken. Zeit habe ich noch, ich könnte mir noch ein Museum anschauen. Aber will ich das gerade?
Nach ein bisschen planlosem Herumspazieren und sitzen merke ich, dass ich eigentlich gerade keine Kraft dazu habe, mir noch ganz viele bunte Gemälde anzusehen, egal wie sehr ich Kunstmuseen liebe. „Aber du bist doch jetzt hier, so schnell kommst du nicht mehr zurück“, sagt meine FOMO („fear of missing out“ = die Angst, etwas interessantes zu verpassen): „Geh doch einfach hin!“. Das ist richtig. Aber gerade tut es mir gut, nicht zu gehen, sondern ein bisschen zu sitzen, mich leer zu machen und nicht noch weitere Eindrücke in mich aufzunehmen. Vielleicht ist es sogar besser für mich, heute „nein“ zum Museum zu sagen.
Rückblickend kann ich natürlich durch diese eine Erfahrung nicht behaupten, dieses oder jenes gelernt zu haben. Trotzdem gibt es Dinge, die ich im Moment ganz gut kann oder Eigenschaften, die ich auf dieser Reise polieren und stärken konnte.
Ich habe gelernt, meinem Bauchgefühl mehr zu vertrauen. Wenn es mir anzeigt, dass ich mich in meiner Umgebung und mit den anwesenden Menschen nicht wohlfühle, dann gehe ich. Ich bin besser darin geworden, mir selbst meine Bedürfnisse zu erfüllen. Ich muss die Person sein, die mich fragt, wie es mir geht, ob ich etwas trinken oder eine Pause machen will. Ob ich Zeit für mich brauche oder aktiv sein will, ob ich eine Umarmung, ein Gespräch oder einfach nur Stille brauche. Ich bin die Person, die mir das „okay“ geben muss, diesen Wünschen auch nachzugehen.
Whatever you want, baby
Die absolute Entscheidungsfreiheit beim Soloreisen ist sicherlich ein großes Plus. Wenn es mir irgendwo nicht gefällt, ziehe ich weiter. Ich kann Menschen ansprechen, wenn ich Lust darauf habe. Ich kann aber auch den ganzen Tag nur mit mir verbringen und mich von meinen Füßen dorthin tragen lassen, wohin sie gehen möchten. Ich darf so viel Raum für meine Freizeit verwenden, wie ich will. Die Ungewissheit vom Morgen oder den nächsten Tagen auszuhalten, erfordert manchmal Kraft und Selbstberuhigung. Es kann auch einschüchternd sein, allein durch die Weltgeschichte zu streifen, sich nicht auszukennen und keine klar definierten Antworten auf die Fragen wo, wann, wie, warum zu haben.
Manchmal weiß ich ganz genau, was ich will. Manchmal ist es ziemlich still in mir und ich habe keinen Schimmer, was der Tag alles bringen könnte,. Für mich hat es sich gelohnt, offen zu bleiben und mich mal mehr mal weniger geleitet von Plänen und Ideen ins Heute zu stürzen.
Es fühlt sich gut an, mit mir einzuschlafen und aufzuwachen.
Es macht mich glücklich, mich für mich selbst zu freuen. In den ersten Tagen, in denen ich unterwegs war, hatte ich ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Ich weiß, dass meine Erlebnisse nicht erst von anderen Menschen abgesegnet werden müssen, um „real“ und valide zu sein. Trotzdem merkte ich, wie stark diese Idee des „Teilens, was ich so mache“ in mir verankert war und wie ich mich vom Alleinsein ablenkte, indem ich ständig in Kontakt war. Dabei bin ich eigentlich eine leidenschaftliche Offline-Person, die es bevorzugt ihr Handy bewusst und nicht aus Langeweile oder Unsicherheit zu benutzen. Ich fing an, laut zu lachen, wenn ich etwas lustig fand, egal, ob jemand mit mir lachte, oder nicht. Ich hüpfte ein bisschen auf der Stelle, wenn ich mich über etwas freute. Ich rief ein erstauntes „Oh!“, wenn mir etwas gefiel, das ich sah. In meinem inneren Dialog drückte ich aus, was ich fühlte, war glücklich für mich für mich selbst, dass ich unterwegs sein durfte.
Dieser Text ist eine persönliche Reflexion meiner letzten Erfahrung des Soloreisens. Was ich sagen will ist, dass Reisen nicht toll aussehen und sich auch nicht immer fantastisch anfühlen muss. Meines Empfindens nach liegt die Herausforderung und auch die Schönheit des Unterwegsseins darin, wirklich zu leben, sich überraschen zu lassen, offen und mutig zu bleiben und immer wieder zu gestalten, was ich selbst gerade erleben möchte. Ich bin frei und habe die Kraft zu entscheiden, was ich tue oder nicht tue. Es gibt vielleicht Tage, an denen sich alles anstrengend, sinnlos oder auf andere Art nicht gut anfühlt. Es gibt auch Tage, an denen ich „Schön ist es auf der Welt zu sein!“ singe und stolz auf mich selbst bin, losgezogen zu sein.
Empfehlen kann ich das Alleinreisen auf jeden Fall, aber wenn du es tust, tu es für dich, mit dir und auf deine Art.