Disclaimer
Weil das queere Universum so groß und bunt ist, möchte ich betonen, dass dieser Artikel trotz größtem Eifer, möglichst vielseitig zu berichten, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Dieser Text soll vielmehr dazu dienen, dich zu bewegen und zu weiterer Recherche oder Beschäftigung mit dem Thema anzuregen.
Queer – was bedeutet das eigentlich?
Queer ist ein Begriff, der lange Zeit als Beleidigung für Menschen verwendet wurde, die auf irgendeine Art von der gesellschaftlichen Norm abwichen. Diese Bezeichnung wurde sowohl für politisch Andersdenkende als auch für nicht-heterosexuelle Menschen verwendet, um diese als anders und somit falsch und ablehnenswert zu kennzeichnen. Der Begriff wurde im späten 19. Jahrhundert zunehmend für die Bezeichnung homosexueller Männer verwendet, weil diese im damaligen gesellschaftlichen Leben die sichtbarste Gruppe queerer Menschen waren. Diese wurden durch die Bezeichnung „queer“ als „seltsam“ oder „exzentrisch“ gekennzeichnet. Zunehmend bezeichneten sich jedoch immer mehr der als „sonderbar“ bewerteten homosexuellen Männer selbst als „queer“, wodurch der Begriff auch positiv und bestätigend verwendet wurde und nach und nach immer mehr zur Selbstbezeichnung für homosexuelle Männer wurde. In Bewegungen der 1960er und -70er-Jahre, die die Gleichberechtigung queerer Menschen forderten, wurde der Begriff queer mit Rufen wie „We’re here because we’re queer“ (Wir sind hier, weil wir queer sind) von der queeren Gemeinschaft als Selbstbezeichnung gewählt. Seit den frühen 2000er Jahren ist queer ist ein Sammelbegriff für alle, deren sexuelle Orientierung nicht heterosexuell ist, die sich nicht eindeutig mit einem der binären Geschlechter (Frau, Mann) identifizieren, oder die sich ihrer sexuellen Orientierung und/oder ihrer Geschlechtsidentität nicht sicher sind.
Heute gilt das Wort queer als von der Gemeinschaft nicht heterosexueller und nichtbinärer Menschen zurückerobert. Dies bedeutet, dass der Begriff mittlerweile als positiv konnotierte Selbstbezeichnung gewählt und nicht mehr als diffamierend erlebt wird.
Die queere Gemeinschaft wird auch oft mit dem LGBTQIA+-Akronym beschrieben.
LGBTQIA+: Akronym für…
- Lesbian = lesbisch
- Gay = schwul/homosexuell
- Bisexuell = Menschen, sich zu zwei oder mehr Geschlechtern hingezogen fühlen
- Transgender = Menschen, die sich nicht mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren
- Q = Queer oder questioning, also Menschen, die ihre Geschlechtsidentität oder ihre sexuelle Orientierung hinterfragen und für die der Begriff „queer“ am besten deren Selbstwahrnehmung von Gender und/oder sexueller Orientierung beschreibt
- Intersexuell = Menschen, die nicht mit eindeutig weiblichen oder männlichen Geschlechtsorganen geboren werden
- Asexuell und Aromantisch = Menschen, die wenig oder kein Verlangen nach Sexualität in partner:innenschaftlichen Beziehungen haben (Asexualität) und Menschen, die wenig oder keine romantische Anziehung zu anderen Personen verspüren (Aromantik)
- + steht für alle weiteren Gruppen, die nicht durch einen zusätzlichen Buchstaben repräsentiert sind).
Die Terminologie der LGBTQIA+-Welt ist weitgehend englisch, weil das die Vereinheitlichung und damit international verständliche Verwendung der Begriffe ermöglicht und ungünstigen oder missverständlichen Übersetzungen vorbeugt.
Innerhalb der LGBTQIA+-Gemeinschaft wird das Wort queer aufgrund der vormals diskriminierenden Verwendung des Begriffs zum Teil kritisch gesehen und diskutiert.
istHeutzutage existieren unzählige Begriffe, die Menschen für ihre Selbstbezeichnung wählen können. Begriffe wie greysexuell, genderfluid oder demiboy und die Vielzahl weiterer Bezeichnungen für verschiedene Menschen aus dem queeren Spektrum können auf den ersten Blick verwirrend wirken, aber jeder Begriff geht mit einer bestimmten Sicht der eigenen Identität und Bedürfnissen einher. Nicht queere Menschen möchte ich zu Offenheit und ehrlichem Interesse für ihr Gegenüber animieren, queere Menschen will ich ermutigen, sich selbst in ihrem eigenen Tempo kennenzulernen.
„Queer kann ein guter Überbegriff sein, der die verschiedenen Ausprägungen des eigenen Erlebens in sich vereint und dadurch ebenfalls eine Gemeinschaft von verschiedensten Menschen aufbaut.

Bin ich queer genug?
Viele Menschen fragen sich im Findungsprozess ihrer Queerness, ob sie denn a) überhaupt queer und b) queer genug sind. Dieser Zweifel, vielleicht nicht „queer genug“ zu sein, gründet sich vermutlich auch auf der Annahme, queere Menschen müssten spezifische Charakteristika erfüllen, ein bestimmtes Aussehen haben, distinkte Hobbies und Interessen haben, eine bestimmte Wertehaltung vertreten und so weiter.
Leider kommt es auch innerhalb der Regenbogengemeinschaft zu Ausgrenzung und Mobbing und der starken Zuordnung von Menschen in vorgefertigte Kategorien. Letztendlich können begriffliche Einordnungen und Identifikationen wie „ich bin aro-ace, trans, lesbisch oder non-binär“ hilfreich und unterstützend sein, den eigenen Platz in der Community zu finden und eine gewisse Klarheit zu haben. Gleichzeitig reicht es, wenn du einfach du bist und um dein Du zu beschreiben, braucht es nicht immer Worte oder umfängliche Terminologie. Wie du dich selbst erlebst, ist das, was zählt. Sich mit einem Begriff aus dem queeren Spektrum zu identifizieren kann also gleichzeitig unterstützend als auch einschränkend sein.
Geschichte, Geschichte
Die eigene Queerness kennenzulernen, zu akzeptieren oder stolz auf diese zu sein, kann ein langer, von Zweifeln, Ängsten und Unsicherheiten aber auch Mut und Neugier begleiteter Weg sein. Überhaupt erst einmal das Wort queer zu kennen, Zugang zu Informationen und Erfahrungsberichten zu haben, was für jüngere Generationen durch das Internet möglich gemacht wird, und überhaupt Zeit und Ressourcen zu haben, um sich mit Fragen zur eigenen sexuellen oder Geschlechtsidentität zu beschäftigen, sind nicht selbstverständlich. Queere Menschen hatten und haben es aufgrund von offener Diskriminierung, rechtlicher Benachteiligung und in Extremfällen lebensgefährlichen Anfeindungen schwer, sich überhaupt selbst zu akzeptieren, bevor an gesellschaftliche Akzeptanz zu denken war und ist. Das geht sogar so weit, dass viele queere Menschen diese ablehnende Haltung gegenüber queeren Personen internalisiert haben, wodurch es maßgeblich erschwert wird, sich selbst als queere Person kennenzulernen und anzunehmen. Ich habe queere Menschen aus meinem engeren und weiteren Umfeld gefragt, wie sie ihre Reise zur eigenen Queerness erlebt haben, wer oder was sie auf diesem Weg unterstützt hat und wie es ihnen jetzt gerade als queerer Mensch geht.
„Ich war mit 12,13 Jahren in meine beste Freundin verliebt und hatte Angst, lesbisch zu sein. Ich wollte mir das „austreiben“, weil ich dachte, dass das nur Ärger bedeuten würde“, erzählt mir Mara im Gespräch. „Ich war immer ein Ally [Verbündete:r, Unterstützer:in der queeren Gemeinschaft] und habe versucht, Queerness – das Wort kannte ich damals noch nicht – zu normalisieren und für die Rechte queerer Menschen einzustehen, habe aber niemals mich selbst eingeschlossen. Erst mit dem Beginn meines Studiums in Konstanz, wo ich in einem sehr queeren Freund:innenkreis gelandet bin, habe ich angefangen, mich wieder mehr zu fragen, ob ich denn queer bin und wenn ja, wie“.
Viele Menschen wurden wahrscheinlich heteronormativ (eine Weltanschauung, in der nur zwei Geschlechter und heterosexuelle Beziehungen zwischen diesen existieren) erzogen und haben dadurch unterbewusst Themen wie Liebe, Partner:innenschaften, Sexualität, Zuneigung, und viele mehr aus einer heteronormativen Perspektive kennengelernt. „Es war auf jeden Fall ein Prozess für mich zuzulassen, mich als queer zu erleben, weil ich schon so lange auf dieses Hetero-Bild gepolt war und deswegen auch während der Schulzeit gar nicht gedatet habe. Ich habe schon gemerkt, dass Typen mich süß finden, aber ich sie nicht“, berichtet Anaïs*. „Erst als ich mit der Schule fertig war und aus meinem bekannten Umfeld wegkam, habe ich angefangen, mich mehr auszuprobieren und auszuleben. In meinem vollen Schulalltag war nicht viel Raum für das Ausleben meiner Queerness.“.
Berührungspunkte
„Eine Freundin aus der Schulzeit hat mir mal den Begriff „heteroflexibel“ erklärt“, erzählt Anaïs weiter. „Für mich hat es sehr viel Sinn gemacht, dass Sexualität fluide ist. Für mich war es immer offen, ob ich mal einen Freund oder eine Freundin als Partner:innenperson haben würde. Im Nachhinein würde ich über mich nicht mehr sagen, dass ich heteroflexibel bin. Nein, ich bin queer.“, schließt sie entschieden ab.
Finn* erzählt mir, dass er polysexuell (sich sexuell oder romantisch zu mehreren Geschlechtern hingezogen fühlen) ist und unter anderem auf Frauen steht, weshalb er lange gar nicht hinterfragt hat, ob er ausschließlich straight ist. „Ich bin damals in sehr intersektionalen und links-politischen Bubbles gelandet, in denen fast alle Personen queer waren. Ich habe mich damals als token straight cis guy [Slang: Die eine heterosexuelle cis-gender Person in einem queeren Freund:innenkreis]wahrgenommen“, erinnert sich Finn. „Ich habe mich sehr viel mit Queerness und Queerfeindlichkeit beschäftigt, weil ich das einfach wichtig fand und dachte, ich will ein guter Ally sein. Und erst nach circa zwei Jahren habe ich gemerkt, dass einige der Dinge, über die ich mich schon lange mit meinen Freund:innen austausche und mit denen ich mich beschäftige, auch auf mich selbst zutreffen“. Die Beschäftigung mit queeren Themen und viel Kontakt zu queeren Menschen hat Finn also die Tür in die queere Welt geöffnet, in der er langsam seinen eigenen Findungsprozess angehen konnte. Es ist also nicht für alle Menschen sofort klar, ob sie queer sind.
Auch Luca* berichtet, dass er*2 sich erst seit Kurzem mit der eigenen Queerness auseinandersetzt. „Ich hatte zwar Kontaktpunkte zu queeren Personen, aber ich dachte, dass alles, was ich von diesen Menschen über Queersein gelernt habe, nicht auf mich zutrifft. Es hilft wahrscheinlich nicht, dass Queersein lange stigmatisiert wurde und immer noch wird, und vor allem da, wo ich aufgewachsen bin, nicht immer ernst genommen wird.“
Geändert habe sich all das, seit Luca sich mit zwei tollen Personen angefreundet hat, bei denen er sich sehr gesehen fühlt und so sein kann, wie er ist. Vor etwa zwei Jahren habe Luca dadurch mehr zu sich finden und selbstbewusst entscheiden können, wer er sein will und wie er sich zeigt. „In dieser Zeit hatte ich auch sehr viel Kontakt zu queeren Menschen und fühle mich auch jetzt noch unter queeren Menschen am meisten gesehen.“, beendet Luca seine Erzählung.
Reise/ Klarheit
„Ich dachte, dass es ganz normal ist, die eigenen Freundinnen gerne auf Partys zu küssen oder ein bisschen rumzuknutschen“, erzählt Anaïs von ihrer Einstellung zu Intimität mit anderen Frauen, bevor sie sich selbst überhaupt als queer bezeichnete. Auch Holly* berichtet mir, dass es aufgrund ihrer Erziehung für sie selbstverständlich war, dass sie verliebt sein könne, in wen sie wolle. „Ich glaube, mir wurde nie vermittelt, dass ich nur männliche Personen toll finden darf“, berichtet sie. „Demnach war es für mich nicht „überraschend“ oder überfordernd, als ich mich zum ersten Mal in eine weibliche Person verliebt habe.“, schließt sie ab.
Finn hingegen erzählt mir, dass er emotional immer noch nicht an dem Punkt sei, sich selbst als queer sehen zu können, weil sich in seinem Kopf oft eine Stimme melde, die ihm einrede, er wolle in seinem queeren Freund:innenkreis doch nur dazugehören. „Eigentlich weiß ich, dass das rational betrachtet Bullshit ist.“, sagt Finn.
Genderidentität: Zwischen den Stühlen
Der Begriff queer umfasst wie gesagt nicht nur die sexuelle Orientierung, sondern auch das Geschlecht (englisch: gender), mit dem sich eine Person identifiziert. In einer heteronormativen Gesellschaft kann es schwer sein, sich als ein Mensch jenseits der Bezeichnungen Mann und Frau wahrzunehmen und zu entdecken. Luca ist eine männlich gelesene Person, die meist er/ihn-Pronomen benutzt, und mir viel über sein*2 Erleben der eigenen Genderidentität erzählt.
„Mein Queer-sein ist nicht so offensichtlich wie das anderer Menschen. Ich habe irgendwann erkannt, dass gender für mich nicht so wichtig ist, wie für andere. Das ist einerseits auf mich bezogen, aber auch auf potenzielle Partner:innenschaften.
Ich würde mich selbst als non-binär und pansexuell (sexuelle und/oder romantische Anziehung zu Menschen unabhängig von deren Gender) bezeichnen. Das ist alles noch relativ neu für mich und ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob sich an meiner Selbstbezeichnung noch etwas ändert.“, berichtet Luca. „Für mich bin ich einfach nur Luca. Wenn ich in bestimmten Situationen als männlich bezeichnet werde, fällt mir auf, dass ich ganz vergessen habe, dass gender für manche Menschen ein bedeutender Teil ihrer Identität ist. Ich habe eigentlich keine Pronomen, die ich bevorzuge. Weibliche Pronomen sind dabei wahrscheinlich noch am ungewohntesten für mich. Ich könnte mir vorstellen, dass das daran liegt, dass die Bezeichnung männlich gelesener Personen als weiblich in meiner Jugend als Beleidigung oder zum Aufziehen dieser Menschen benutzt wurde. Meine Partnerin spricht mit ihren englischsprachigen Freund:innen von mir als they/them, was sich ungewohnt anfühlt, aber auch irgendwie interessant ist“, beschreibt Luca seine Beobachtungen.
„Für mich war das Internet auf jeden Fall ein wichtiger Ort, um meine eigene Genderidentität kennenzulernen. Mir haben in der Pubertät einfach die Begriffe gefehlt, um meine Gefühlswelt bezogen auf mein Gender zu beschreiben und mit 18,19 habe ich dann durch Twitter und TikTok passende Begriffe gefunden.“, erzählt mir Lou. „Und noch viel wichtiger: Auf TikTok waren auf einmal ganz viele Menschen, die auch so waren wie ich und ich war nicht mehr anders und komisch. Hat viel für mein Selbstbewusstsein gemacht.“
Und jetzt?
Queere Menschen gab es schon immer und wird es auch immer geben, aber deren Sichtbarkeit in Medien und Alltag hat erst in den letzten Jahrzehnten zugenommen (und das auch nicht in allen Ländern dieser Welt im gleichen Maße!).
Auch heute sind viele queere Menschen von Diskriminierung von anderen (oder sich selbst) bedroht. In vielen Ländern dieser Welt ist Queersein kriminalisiert oder queer-feindliche Gesetze erschweren es queeren Menschen, gleichberechtigt ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Schlussendlich lässt sich zusammenfassen, dass alle Menschen, die in diesem Artikel zu Wort gekommen sind, auf völlig unterschiedliche Weisen mit dem eigenen Queersein in Kontakt gekommen sind, und doch ähneln sich manchmal ihre Gefühle und Erfahrungen. Sich Zeit zu lassen und sich Raum zu geben, um sich selbst besser kennenzulernen und zu spüren, was man wirklich will, kann im Findungsprozess der eigenen Queerness unterstützend und spannend sein.
Luca sagt dazu: „Meine Reise hat gerade erst angefangen und ich habe viel Zeit, mich mit Queerness und was das für mich bedeutet, auseinanderzusetzen. Ich fühle keinerlei Druck, mich schnell für irgendeinen Begriff, der mich beschreibt, entscheiden zu müssen. Ich habe ein tolles und akzeptierendes Umfeld und kann einfach schauen, wo mich das alles hinführt.“
Egal, ob du queer bist, oder nicht – ich hoffe, dass dieser Text dir ein paar spannende und bewegende Einblicke geben konnte. Das Thema Queerness ist so vielfältig wie die Menschheit selbst, weshalb mit diesem Text bei weitem nicht alles gesagt ist. Ich hoffe, du fühlst dich nach dem Lesen dieses Artikels bereichert und ermutigt, mit Freund:innen und Menschen in deinem Umfeld über Queerness zu sprechen, dir Geschichten anderer über deren queer sein anzuhören oder deine eigenen zu erzählen.
Weiterführende Links:
Wer mehr über Queer-Terminologie wissen möchte, stöbert am besten auf der verlinkten Webseite herum:
- https://queer-lexikon.net/lexikon/
- Podcast-Folge von Zeit online:
- Dokumentation über queere Eltern in Italien:
*Name von Redaktion geändert
*2 Person ist damit einverstanden, dass in diesem Text von ihr mit er/ihn-Pronomen gesprochen wird (auch, weil das aktuell die von der Person meistverwendeten Pronomen sind)