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Der Politikverdrossenheit zum Trotz: Von klassischer Hochschulpolitik bis zum ehrenamtlichen Projekt

Jeder Studierende kennt sie, die Geschichten von den Demonstrationen und Protestmärschen mit Plakaten, auf denen Freiheitsparolen standen und Philosophen wie Karl Marx zitiert wurden. Als die Studierenden der 68er-Bewegung noch auf die Straßen gingen. Auf die Barrikaden, um sich gegen verstaubte Gesellschaftsstrukturen aufzulehnen und für ein fortschrittlicheres Universitätssystem zu kämpfen. Das waren noch Zeiten.

Erstausgabe des Artikels: Wintersemester 2016 Ausgabe 1

Heute zeichnet sich offenbar ein anderes Bild: Unpolitisch, pragmatisch und desinteressiert lautet das Fazit vieler Politiker und Wissenschaftler zur neuen Generation, die sich den Zahlen nach zu urteilen der Politik verweigern. Was ist nur los mit den „Revolutionären“ von morgen? Sind sie wirklich so unpolitisch wie ihnen nachgesagt wird?

Situation in Konstanz

Eine traurige Bilanz verzeichnete die Konstanzer Uni-Wahl 2016 mit einer Wahlbeteiligung von nur 16,9%. Könnte man meinen. Immerhin ein paar Prozent mehr als im vorherigen Jahr. Historisch gesehen bewegen sich Wahlergebnisse an Hochschulen seit jeher im Keller. Dabei macht es offenbar keinen Unterschied, ob Wahlkampf betrieben wird oder nicht.

„Die Studierenden haben nicht das Gefühl, dass Hochschulpolitik wichtig ist. Das liegt unter anderem daran, dass es derzeit an der Uni keine Öffentlichkeit gibt, in der politische Debatten nach außen getragen werden können“,

bedauert Marco Radojevic, damaliger stellvertretender Vorsitzender der Studierendenschaft an der Uni Konstanz. Wie stelle ich mir eigentlich eine Studierendenschaft vor? Welche Veränderungen würde ich mir für die Zeit an der Uni, aber auch für mein Leben in Konstanz wünschen? Wenn solche Fragen und Diskurse mehr Raum gewinnen würden, könne vieles erreicht werden, meint der Masterstudent. Die Gelder sind da, die Möglichkeiten auch, doch so richtig voranzugehen scheint es irgendwie nicht. Desinteresse an der Politik? Wohl kaum, denn noch nie hatten Themen wie Umweltschutz oder Flüchtlingskrise mehr Relevanz bei den jungen Leuten als heute.

Im Jahr 2015 erfolgte eine erste Entwarnung durch die Shell Jugendstudie, die die Situation deutlich optimistischer einstufte. Das politische Interesse sei gestiegen. Und damit „auch die Bereitschaft zur eigenen Beteiligung an politischen Aktivitäten“, heißt es. Dadurch scheint sich auch das Verständnis für politisches Engagement erweitert zu haben. Manche Studierende wollen sich beispielsweise nicht mehr einem Parteiprogramm verpflichten, sondern dort mit anpacken, wo gerade Not am Mann ist. Oft werden neue Konzepte ausprobiert. Denn nicht zuletzt ist das politische Interesse auch mit der Frage nach der eigenen Identität gekoppelt, die vielleicht erst noch ergründet werden muss.

Auf ähnliche Weise suchte Juliane Hoss, Psychologie-Studentin der Uni Konstanz, die Freiheit in unabhängigen Projekten. Im zweiten Semester trat sie dem Verein „Studieren ohne Grenzen“ bei, 2014 übernahm sie dort das Amt des Vorstandes.

„Mit der Idee und Vision von SOG konnte ich mich sehr gut identifizieren“.

Aus der Einsicht über das eigene Privileg, selbst studieren zu dürfen, während es anderen verwehrt ist, entstand am Ende ein neues Bewusstsein.

„Da habe ich gemerkt, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann, auch anderen Menschen diese Chancen zu ermöglichen.“

Wie die Studentin weiter beschreibt, wurden in ihrem Freundeskreis zahlreiche Debatten über soziale Ungleichheiten geführt. Doch bei Tatenlosigkeit sei der Frust irgendwann zu groß gewesen.

„Dann habe ich von der Idee gelesen, wie man Vorurteile und Rassismus auf gesellschaftlicher Ebene verringern könnte. Im Herbst 2013 wurden wir erstmals aktiv, später gründete sich der Verein Bridging Gaps.“

Was ist “Bridging Gaps”?

Der Verein will Kontaktschwierigkeiten und Hemmschwellen von Jugendlichen verschiedenerer sozialer Hintergründe abbauen, indem diese sich gemeinsam über Rassismus und Toleranz austauschen. Mit diesem Ziel sind die Mitglieder von “Bridging Gaps” an vier deutschen Hochschulen tätig. Die regionale Gruppe Konstanz wird dabei von Ramona Beck geleitet. Was bedeutet es, diskriminiert zu werden und wie kann man dem entgegenwirken? Um die Debatte über das globale Problem sozialer Ungleichheit anzutreiben und über die Universitätsgrenzen hinaus zu tragen, wurde 2014 die Initiative „Bridges Camps“ in Südafrika gestartet. Dort erhalten die Teilnehmenden unter anderem selbst die Chance aktiv zu werden, indem sie als „Moderatoren“ in weitere Camps fahren, um den Toleranzgedanken weiter zu verbreiten und so eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.

Hochschulpolitik hautnah

Sich einzubringen und seinen Teil zur Gesellschaft beizutragen, das hat sich auch Marco Radojevic zur Aufgabe gemacht. Über fünf Jahre war er an der Uni Konstanz politisch aktiv, darunter im Studierendenparlament bei der Grünen Offenen Linken Liste (GOLL), im Kreistag für die Linke und dann als Stellvertreter der Studierendenschaft. Marco Radojevic hat den klassischen Weg der Hochschulpolitik gewählt, um das Universitätsleben mitzugestalten.

„Hochschulpolitik ist viel näher am alltäglichen Geschehen, als die Studierenden vermuten“,

argumentiert er. Ob Wohnungsnot oder veganes Essen in der Mensa – Probleme und Wünsche, die das Studium oder die Zeit in Konstanz betreffen, können aktiv angegangen werden, ohne, dass Veränderungen lange auf sich warten lassen. Dabei müsse keiner parteipolitisch aktiv werden. Wer beispielsweise im AStA mitwirkt, vertritt die Interessen der Studierenden öffentlich gegenüber der Universitätsleitung und der Stadt. Auch da sieht Marco Radojevic in seiner Position großes Potential.

„Fast 25% der Wahlberechtigten in Konstanz sind Studierende. Trotzdem gehören wir zu einer der wenigen Universitätsstädte, für die es in Kneipen und Bars eine Sperrstunde gibt. Diese politische Macht könnten wir besser ausspielen. Leider fehlt uns dafür die Masse an Studierenden, die bei solchen Angelegenheiten hinter uns stehen müsste. Wir freuen uns deshalb immer über neue Mitglieder, die sich beteiligen wollen.“

Viele Studierende befürchten ihr Engagement nicht mit dem Studium vereinen zu können. Auch bei Juliane Hoss stellt sich die Frage, wie sie es schafft, alles unter einen Hut zu bringen.

„Reine Einstellungssache“,

merkt sie an.

„Ich finde es wichtig, dass jeder für sich einen Bereich findet, in dem er aktiv werden kann.“

Und Marco Radojevic entgegnet:

„Das coole an dem Job ist doch, dass am Ende jeder selbst bestimmt, wie viel Engagement er einbringen möchte. Die Arbeit macht Spaß, man lernt neue Leute kennen und das Studium wird dabei nicht beeinträchtigt.“

Beides stehe also in keinem ambivalenten Verhältnis. Im Gegenteil, schließlich mache sich die Bereitschaft meist auch im Studienerfolg bemerkbar.

Politisches Engagement, das kann also vieles bedeuten. Doch durch die eigene Interpretationsfreiheit des Begriffs ist Vorsicht geboten. Vorsicht vor einer Willkür, die Parteipolitik oder Wahlen überflüssig erscheinen lassen könnten.

„Die wichtigsten Entscheidungen werden nach wie vor in den Gremien getroffen, die unsere gesellschaftlichen Bedingungen bestimmen“,

gibt Marco Radojevic zu verstehen.

„Deshalb kann ich nur an jeden appellieren, wählen zu gehen. Den Studierenden ist zu wenig bewusst, wie viel sie verändern können, und dass sie sich mit ihrem Wahlverzicht nicht enthalten, sondern Andere für sich entscheiden lassen.“

Auch Juliane Hoss ist überzeugt:

„Sich die Frage zu stellen, wo man sich positionieren möchte, ist heutzutage sehr wichtig.“

Wie das den Studierenden schmackhafter gemacht werden könnte, darüber wurde lange diskutiert. Sogar der Gedanke, die Uni-Wahl parallel zu den AStA-Partys stattfinden zu lassen, stand im Raum.

„Wenn so viele Studenten zu den Wahlen kommen würden, wie zu unseren Feierlichkeiten, wäre das ein Traum“,

scherzt Marco Radojevic.

Die Führung öffentlicher Angelegenheiten zum privaten Vorteil

Frei einzuteilende Zeiten, neue Bekanntschaften und die Aussicht auf Veränderung – wir brauchen also gar nicht wieder auf die Straßen zu gehen. Denn die demokratischen Werte wurden, und das wird leider oft vergessen, vor über 60 Jahren bitter erkämpft. Allein deshalb sollten wir sie wertschätzen und solidarisch bleiben; die Wiedereinführung der verfassten Studierendenschaft hochhalten, die erst seit weinigen Jahren wieder besteht. Ein Kreuzchen setzen und aktiv werden, das ist der erste Schritt.

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