Bruderherz, du Blödmann!

Es ist wohl die größte Hassliebe der Menschheit – die Familienbande zwischen Geschwistern. Aber bevor wir unsere bessere Hälfte das nächste Mal verfluchen, weil sie das Bad zu lange blockiert oder sich unerlaubt das Lieblingstop geliehen hat, sollten wir vielleicht einen Gedanken mehr daran verschwenden, ob wir wirklich besser ohne sie dran wären. Neue Studien zeigen nämlich, dass Geschwister maßgeblichen Einfluss auf unsere Persönlichkeit haben.

Die Frage, ob ältere Geschwister wirklich regelbewusster oder Nesthäkchen sorgloser sind, beschäftigt die Wissenschaft schon seit Jahrzehnten. Die sogenannte Geschwisterforschung widmet sich dem Einfluss von Faktoren wie der Familiengröße, der Geschwisterfolge oder der Abfolge der Geschlechter auf die Persönlichkeit Die Beziehungen zu Geschwistern ist oftmals eine der langjährigsten und man verbringt gerade in der Zeit, in der sich die Persönlichkeit am stärksten entwickelt, am meisten Zeit mit ihnen. Und trotzdem wurde sie in der Wissenschaft lange hinter Partner:innenbeziehungen oder dem Verhältnis zu Arbeitskolleg:innen angestellt. Tatsächlich hat sie erst seit den 1980er Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen. Dabei wäre das perfekte Zeitalter für die Forschung eigentlich Jahre davor gewesen: Während eine Frau in Deutschland im Jahr 1900 im Schnitt noch etwa vier Kinder bekam, waren es 1970 noch zwei und heute nur noch etwa 1,35. Trotzdem sind im Jahr 2022 noch drei von vier Kindern mit mindestens einem Geschwisterkind, egal ob leibliche, Adoptiv- oder Stiefgeschwister aufgewachsen.

Was sagen Geschwister nun aber über unsere Persönlichkeit aus? Geschwister sind großer Bestandteil der Sozialisierung und können beispielsweise Aggressivität mindern, Fürsorge und Kooperation fördern. Letzteres sei vor allem bei Sandwich-Kindern, also Mittelkindern, der Fall, zeigen Michael C. Ashton und Kibeom Lee in ihrer Studie Ende letzten Jahres. Hierbei bezogen sie sich auf die Befragung von über 700 000 Teilnehmer:innen, die je 100 Fragen zu ihrer Persönlichkeit beantworteten. Auch die Anzahl der Geschwister wirkte sich positiv auf die Persönlichkeitsmerkmale Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Verträglichkeit aus, die Menschen kooperativer machen. Andere Forscher:innen argumentieren, dass Geschwisterkinder bessere Streitschlichtungstaktiken entwickeln. Einzelkinder stünden hier laut der Studie – klischee-konform – hinten an. Dafür würden sie sich, zusammen mit Erstgeborenen, offener für neue Erfahrungen zeigen.

Ein anderer Stereotyp besagt, dass Mädchen, die nur mit Brüdern aufwachsen, taffer seien und sich agentische Charakterzüge aneignen würden. Diese Eigenschaften, wie beispielsweise Durchsetzungsvermögen, werden in der Gesellschaft häufig als „typisch männlich“ angesehen. Stimmt das? Nein, sagt eine Studie der  Universitäten Leipzig und Zürich aus dem Jahr 2022. Die Forschenden fanden keinen Unterschied zwischen dem Aufwachsen mit Brüdern oder Schwestern hinsichtlich der Persönlichkeit im Erwachsenenalter.

Bart Goldstein und Cécile Magnée kamen 2020 zu einem Ergebnis, die gleich beiden anderen Studien widersprechen. Den Forschenden zufolge sind erstgeborene Brüder verträglicher, wenn sie eine jüngere Schwester haben.

Ein neues Forschungsergebnis, das für viele Eltern kontrovers sein könnte, machte Anfang des Jahres Schlagzeilen: Sie haben doch Lieblingskinder! Im Durchschnitt fiel das Ergebnis der US-kanadischen Studie zugunsten von Töchtern und gewissenhaften Kindern aus. Weder ihnen, noch ihren Geschwistern fiele das aber aktiv auf – zum Glück, denn Favorisierung der Eltern kann sich beispielsweise auf die psychische Stabilität von Kindern auswirken. An anderer Stelle gibt die Forschung aber Entwarnung: Obwohl sich Geschwister vor allem ab der Pubertät zu distanzieren scheinen, hält die Reserviertheit nicht an. Die zwischenmenschliche Beziehung bei Geschwistern verläuft häufig U-förmig: als Kinder und im hohen Alter steht man sich am nächsten.

Insgesamt ist sich die Geschwisterforschung in den allermeisten Fragen noch uneinig. Egal ob Sandwich-Kind, Erstgeborene:r, Nesthäkchen oder Einzelkind – jede:r findet Studien, die den eigenen Platz auf dem Siegerpodest sichern. Es bleibt also spannend in den kommenden Jahren. Bis dahin können wir uns darum  noch mit denen streiten, mit denen wir es am besten können: unseren Geschwistern. Ganz nach dem Motto „Er hat angefangen“ – „Nein, sie!

Related Posts
Lesen

Aus Konstanz in die Großstadt – Mein Erasmus in Tschechiens Hauptstadt Prag

Wer sich für das Wintersemester 2021/22 auf ein Semester mit Erasmus+ beworben hat, sah sich im Herbst vor die Wahl gestellt: Soll ich hinfahren oder doch lieber absagen und es noch einmal versuchen, wenn die Pandemie nicht mehr einen solchen Einfluss auf unser Leben hat. Ich habe mich dafür entschieden, im September nach Prag zu reisen. Was ich dort so erlebt habe, erfahrt ihr hier.
Litfaßsäule
Lesen

Geschichten aus der Campuls-Redaktion: Corona und Erasmus

Unser Lektorin Anna-Maria Kübler studiert LKM an der Universität Konstanz und ist für ihr sechstes Semester nach Tartu, Estland gezogen. Doch dann kommt die Corona-Pandemie, das Auswärtige Amt erlässt eine weltweite Reisewarnung und viele Erasmus-Studierenden reisen fluchtartig in ihre Heimatländer zurück. Anna entscheidet sich in Tartu zu bleiben – und erlebt ein ziemlich anderes Erasmussemester. Im Interview erzählt sie, wie sie die Krisenzeit dort erlebt hat.
Lesen

Die Masterarbeit: Ein Prozess

Jede:r von uns kennt sie: Abschlussarbeiten. Am Anfang des Studiums scheinen sie noch in weiter Ferne zu liegen. Im Masterstudium hat man kaum ein Jahr studiert, schon springt einem diese Abschlussarbeit entgegen, wie eine lästige Klette. Noch dazu kann dies auch eine große Umstellung sein: Während man an einigen Universitäten bis zu sechs Monate Zeit für eine Bachelorarbeit hat, sind es im Master plötzlich nur noch vier. Unsere Chefredakteurin sitzt gerade selbst an ihrer Masterarbeit und nimmt euch mit durch ihre verschiedenen Phasen der Verzweiflung, Hochgefühl und fehlendem Antrieb.