Taktisch Wählen – sinnvoll und notwendig oder Hintergehen der eigenen Überzeugungen?

Kurze Info vorab: Taktisches Wählen bedeutet, nicht unbedingt die Partei zu wählen, die den eigenen Überzeugungen am ehesten entspricht. Beim taktischen Wählen wählt man nicht die präferierte Partei, sondern eine, die möglicherweise größere Chancen hat, in den Bundestag einzuziehen, um so gegebenenfalls eine andere Partei zu schwächen, oder um zu versuchen, eine bestimmte Koalition herbeizuführen.

Taktisches Wählen ist 2025 wichtiger denn je

Ein Kommentar dafür, von Jacob Kern

Dass die CDU/CSU mit Friedrich „Fritze“ Merz den Kanzler der nächsten Bundesregierung stellen wird, steht so gut wie fest. Die Unionspartei steht in den Umfragen seit Monaten unumstößlich auf dem ersten Platz, gefolgt von der AfD. Welche konkreten Folgen das für die nächsten vier Jahre in Deutschland haben wird, ist nicht klar. Klar ist aber, dass sie denjenigen, die politisch links stehen, nicht gefallen werden. 

Es gilt nun also, den Einfluss der rechtskonservativen bis rechtsextremen Parteien im Bundestag zu minimieren. Genau das kann durch taktisches Wählen erreicht werden. Zwar ist taktisches Wählen durch die Wahlrechtsreform deutlich schwieriger geworden, es gibt aber trotzdem noch die Möglichkeit, durch wohlüberlegte Vergabe der Erst- oder Zweitstimme erheblichen Einfluss auf die nächste Bundesregierung zu nehmen.

Die Fünf-Prozent-Hürde ist zwar immer noch wichtig, neu ist aber jetzt unter anderem, dass beim Gewinn von drei Direktmandaten nicht nur die drei Kandidat*innen der jeweiligen Partei in den Bundestag einziehen, sondern so viele, wie die Partei anteilig Zweitstimmen erhalten hat. Ein Beispiel: Die FDP erreicht nur 4,6 Prozent der Stimmen, scheitert also an der Fünf-Prozent-Hürde, gewinnt aber bundesweit drei Direktmandate. Das heißt, sie darf in den Bundestag einziehen und ihr stehen 4,6 Prozent der Sitze im Bundestag zu.

Je nachdem welche politischen Ziele man persönlich verfolgt, ist es nicht unerheblich, mit welcher Partei die CDU koaliert. Eine Koalition mit der AfD ist laut Friedrich Merz  ausgeschlossen, es blieben als wahrscheinlichste Partner also die SPD und die Grünen. (Auch, wenn sich Markus Söder gegen letztere nach wie vor vehement sträubt)

Taktisches Wählen kann also noch immer sinnvoll sein, je nachdem, welches Ziel man verfolgt.

Will man zum Beispiel den Einfluss der AfD minimieren, kann es ein persönliches Ziel sein, die Sperrminorität der AfD verhindern. Für eine Sperrminorität müsste sie auf ein Drittel der Sitze im Bundestag kommen.  Das wird sie allein nicht schaffen. Sollten aber sowohl die Linke als auch die FDP nicht, aber das BSW in den Bundestag einziehen, wäre es möglich, dass AfD und BSW gemeinsam bestimmte Entscheidungen über die Sperrminorität verhindern. Sollte es das BSW aber nicht in den Bundestag schaffen, wird die AfD allein nicht genug Sitze für eine Sperrminorität haben.

Auch kann man den Einfluss der großen Parteien minimieren, indem man eine Partei wählt, die droht, entweder an der Fünf-Prozent-Hürde, oder den drei Direktmandaten zu scheitern und zu hoffen, dass sie über den einen oder den anderen Weg in den Bundestag einzieht. Das würde vor allem den beiden stärksten Parteien schaden. Es ist aber ebenso wichtig, bei dieser Bundestagswahl keine Partei zu wählen, die wahrscheinlich nicht auf fünf Prozent der Stimmen oder drei Direktmandate kommt. Wer also Tierschutz wichtig findet und deshalb die Tierschutzpartei wählen möchte, dem sei gesagt: Die Stimme ist wahrscheinlich verschenkt und bei einer der größeren Parteien, wie den Grünen, der SPD, oder bei den Linken, die vermutlich auf über fünf Prozent der Stimmen kommen werden, besser aufgehoben. Bei der letzten Bundestagswahl wurden so über vier Millionen Stimmen “verschenkt“, weil sie an Parteien gingen, die nicht über fünf Prozent hinauskamen

Das taktische Wählen ist also auch mit der neuen Wahlrechtsreform nicht tot und kann in einzelnen Fällen noch immer ein wichtiges Mittel sein, um rechter Politik in Deutschland entgegenzuwirken.

Warum wir mutig wählen sollten

Ein Kommentar dagegen, von Paul Stephan

Es geht um viel bei dieser Bundestagswahl. Die AfD droht, zur zweitstärksten Kraft aufzusteigen, und die Union könnte mit Merz einen Kanzler stellen, der den Rechtsruck beschleunigt. Vor diesem Hintergrund neigen viele dazu, aus strategischen Gründen Parteien zu wählen, die als Gegenpol im Bundestag fungieren . Doch dieses taktische Wählen birgt eine erhebliche Gefahr: Es schwächt die Demokratie, indem es kleineren Parteien den nötigen Spielraum zum Wachsen verwehrt – wer nie gewählt wird, kann nie wachsen, und wer nie wächst, wird niemals gewählt.

Die Geschichte zeigt: Ohne mutige Wählerinnen und Wähler, die gegen den Strom schwimmen, gäbe es heute keine Grünen im Bundestag. 1980 erreichte die Partei gerade mal 1,5 % der Stimmen, doch ihre Anhängerinnen blieben trotzdem loyal. Heute prägen sie die Klimapolitik  maßgeblich. Demokratie bedeutet, Visionen zu wählen – nicht nur Schadensbegrenzung zu betreiben. Wenn wir jede Wahl zur „Rettung vor dem Untergang“ stilisieren, verlieren wir den Blick für langfristige Ziele. Die LGBTQ+-Bewegung, die Friedensdemonstrationen der 1980er oder Fridays for Future zeigen: Veränderung entsteht, wenn Menschen kompromisslos für ihre Überzeugungen einstehen – nicht, wenn sie sich dem vermeintlich Unvermeidlichen beugen. 

Die Bundestagswahl 2025 ist keine Richtungsentscheidung zwischen Merz und AfD, sondern eine Chance, den politischen Diskurs zu erweitern. Gebt eure Stimme der Partei, die eure Werte am besten vertritt – selbst wenn sie aktuell klein ist. Nur so entsteht Druck auf die Großen, sich zu bewegen. Geht es bei Wahlen nicht darum, die eigenen Überzeugungen authentisch zum Ausdruck zu bringen? Anstatt aus Angst vor einer „verlorenen“ Stimme auf sichere Alternativen zu setzen, wäre es ein kleiner, aber entscheidender Schritt, sich auf die eigene politische Haltung zu besinnen. Denn nur, wenn auch kleine Parteien – und damit neue Ideen – eine faire Chance erhalten, kann sich unser politisches System weiterentwickeln und an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger ausrichten.  Denn Demokratie lebt von echtem Meinungspluralismus – und der ist nur möglich, wenn auch kleine Stimmen Gehör finden.


 

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