Völlig überzogen – Ein Kommentar zu den Razzien gegen die Letzte Generation

Die Straßenblockaden der Letzten Generation stoßen in der breiten Bevölkerung nicht gerade auf Zustimmung. Gerade konservative Politiker nutzen die aufgeheizte Stimmung massiv für ihre eigenen Zwecke. Dass es vorletzte Woche auch noch Razzien gegen die Protestbewegung gegeben hat und nun der Vorwurf einer kriminellen Vereinigung im Raum steht, ist völlig überzogen, bewertet unsere Chefredakteurin.

„Klimakleber“, „Klimaterroristen“, „Klima-RAF“, „völlig bekloppt“ – die Letzte Generation musste sich in den letzten Wochen und Monaten viel anhören. Völlig bekloppt – das sind auch die bundesweiten Razzien der Polizei vorletzte Woche und die Bezeichnung als „kriminelle Vereinigung“ besonders durch die bayerischen Behörden. Zum einen ist die juristische Einordnung als kriminelle Vereinigung stark umstritten und gerichtlich nicht ansatzweise geklärt. Zum anderen kommt dies einer Vorverurteilung gleich und lässt an der Neutralität und Unabhängigkeit der Justiz von der Politik stark zweifeln.

Überzogen – ein zweites Wort, was mir zu den Hausdurchsuchungen einfällt. Sie führen einzig und allein dazu, dass die Letzte Generation und damit die gesamte Bewegung kriminalisiert wird. Man befeuert damit nur noch mehr die bereits aufgeheizte Stimmung. Gerichtsverfahren gegen einzelne Aktivisten kann man nicht damit gleichsetzen, wenn man eine ganze Bewegung unter den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung stellt. Was das Vorgehen der Behörden nun aber noch einmal deutlich gemacht hat: Politik und Justiz scheinen sich schwer damit zu tun, einen richtigen (politischen) Umgang mit der Letzten Generation zu finden. Stichwort ziviler Ungehorsam.

Selbst renommierte Ex-Bundesverfassungsrichter:innen, wie Andreas Voßkuhle, halten die politische Debatte für überhitzt und den Vergleich der Letzten Generation mit Terroristen für übertrieben. Denn legaler Protest gehört ebenfalls zur Gruppe dazu, den man nicht einfach ausblenden kann. Die Letzte Generation ist Teil einer sozialen Bewegung, sie beteiligt sich am politischen Meinungsbildungsprozess und hat nun wirklich keine realitätsfernen Forderungen: Neun-Euro-Ticket, Tempolimit, Gesellschaftsrat. Das ist immerhin (noch) nicht strafbar in Deutschland.

Wenn es um die Letzte Generation geht, sind die Gemüter erhitzt – nicht nur bei Bürger:innen wie hier in Konstanz, sondern auch in der Politik. Foto: Steffen Mierisch

Viel schlimmer aber ist, dass sich die Debatte – besonders auch durch Medien vorangetrieben – soweit verschoben hat, dass es nicht mehr ernsthaft um den Klimaschutz und die Rettung des Planeten Erde geht. Insbesondere für das FDP-geführte Verkehrsministerium sicherlich eine willkommene Abwechslung. Statt sich vermehrt für den Ausbau erneuerbarer Energien oder des öffentlichen Nahverkehrs, den Umstieg vom Auto auf die Schiene oder das Einsparen von CO2 einzusetzen, nutzen besonders konservative Politiker die Gunst der Stunde, um Wahlkampfstimmung zu machen. Angeblich, um – wie Innenministerin Nancy Faeser von der SPD so schön sagte – „sich nicht mehr auf der Nase herumtanzen zu lassen.“ Die Union will beispielsweise nun die Letzte Generation auch vom Verfassungsschutz beobachten lassen – und stellt damit die Protestbewegung mit Identitärer Bewegung, AfD und Junger Alternative gleich.

Was sehnt man sich als junger Mensch nach der Zeit, in der die Politik keine Symptome und kurzfristige „Störungen“ bekämpft, sondern endlich die Verantwortung für den menschengemachten Klimawandel in die Hand nimmt.

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