Oliver ist 24 Jahre alt und Student an der Uni Konstanz. 2020 ist er an den See gezogen, um hier Biologie zu studieren. Wie jede:r andere Studierende nimmt er an den Vorlesungen und Seminaren teil oder steht im Labor. Eigentlich ganz normal. Eine Sache ist allerdings ungewöhnlich. Zu Beginn jeder Vorlesung holt er einen kleinen metallenen Kasten heraus und legt diesen nach vorne, auf den Tisch der Lehrperson. Für Unwissende ziemlich eigenartig. „Das nimmt alles auf und der Ton geht dann direkt an meine Hörgeräte, per Funk“, erklärt er. Es ist nicht zu erkennen, aber Oliver lebt seit vielen Jahren mit einer Hörbehinderung. Diese wurde kurz vor seinem dritten Lebensjahr diagnostiziert. Nun bestreitet er mit seinen Hörgeräten im Ohr den Alltag. Diese verstärken die Töne, die er nicht gut hören kann. „Für mich sind Hintergrundgeräusche schon schwierig. Aber jetzt, wenn‘s ruhig ist, geht das schon klar“, erklärt er, auf die Frage nach seinem Hörvermögen auf der Mensaterrasse. Der kleine metallene Kasten ist ein Mikrofon, welches seine Hörgeräte ergänzt. Wichtig, vor allem bei großen und lauten Veranstaltungen, wie den Vorlesungen an der Uni, denn nur so kann er fast ohne Einschränkung am Unterricht teilnehmen.
Oliver war früher auf einer Hörgeschädigten-Schule bei Freiburg. Dort waren die Klassen klein und die Lehrenden speziell dafür ausgebildet. Nun studiert er an einer Uni, welche nicht spezifisch dafür ausgelegt ist. Und trotzdem scheint sein Studium gut zu funktionieren: Er hat seine Hörgeräte und Mikrofone überall dabei, darf bei Prüfungen oftmals ein bisschen länger schreiben und bekommt bei weiterem Bedarf Unterstützung der Lehrenden. Gelungene Inklusion an der Uni Konstanz? „Ich kann nur von mir persönlich sprechen, aber ich finde es im Großen und Ganzen gut. Aber natürlich habe ich auch andere Bedürfnisse wie jemand, der viel schlechter dran ist als ich“, entgegnet Oliver.
Neben Oliver gibt es noch viele weitere Studierende mit Behinderung, die von ganz anderen Hürden betroffen sind. Die 22. Sozialerhebung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zeigt, dass knapp 24 Prozent aller Studierenden in Deutschland gesundheitlich beeinträchtigt sind. 16 Prozent aller Studierenden geben dabei an, von einer Behinderung betroffen zu sein, welche ihr Studium erschwerend beeinträchtigt. Viele Studierende haben dementsprechend nicht nur ein anspruchsvolles Studium vor sich, sondern haben auch, wie Oliver, eine Behinderung, welche ihr Studium erschwert. Dabei denkt man oftmals instinktiv an die sichtbaren Beeinträchtigungen, wie mobilitätsbehinderte Menschen mit dem Rollstuhl. Behinderungen sind aber vielseitig und oftmals mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. So gibt es neben den meist bekannten Mobilitäts-, Seh- und Hörbehinderungen beispielsweise auch geistige oder psychische Behinderungen, mit denen Menschen leben.
Unter dem Stichwort „Inklusion“ hat sich unsere Gesellschaft das Ziel gesetzt, Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Dies ist der Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention und den Behindertengleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern. So setzt sich auch unsere Uni aktiv mit diesem Thema auseinander.
Doch wie steht es nun um Inklusion und Barrierefreiheit? Welche Chancen haben Studierende mit Behinderung an der Uni Konstanz?
Kommen Studierende mit Behinderung an die Uni Konstanz, so haben sie unterschiedliche Möglichkeiten, Unterstützung zu bekommen. Es gibt verschiedene Anlaufstellen, die sich schwerpunktmäßig voneinander unterscheiden (siehe Grafik 1). Neben der Zentralen Studienberatung und den Fachstudienberatungen gibt es seit 2015 auch die Beauftragten für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Aktuell übernehmen Christiane Harmsen und Nora Binder dieses Amt. Zu finden im Büro des Gleichstellungsreferats, stehen sie für Anliegen jeder Art zur Verfügung. Sie unterstützen Studierende bei ihrem Studienstart oder begleiten sie bei Bedarf übers Studium hinweg. Mit ihrer Hilfe können auch Eingliederungshilfen oder Nachteilsausgleiche beantragt werden. Damit bekommen Studierende beispielsweise finanzielle Mittel vom Landratsamt bewilligt. Diese helfen ihnen dann, Unterstützung im Alltag zu bekommen, wie eine Schreibassistenz zum Beispiel. „Es ist mir ein ganz wichtiges Anliegen, dass man sich auf dieser Stelle einfach dafür einsetzen kann, dass viele Leute hier studieren können und dass sie nicht auf so viele Barrieren treffen“, erklärt Nora Binder.
Oliver hat sich bei Studienstart nicht an die beiden gewandt, sondern an Marlies Piper. Sie leitet die Sozialberatung von Seezeit und steht ebenfalls für Fragen jeder Art bereit. Schwerpunktmäßig kümmert sie sich aber nicht um studienorganisatorische Dinge, sondern um Angelegenheiten, wie die Finanzierung des Studiums zum Beispiel. „Bei Behinderung jeglicher Art gibt es Hilfe, man muss nur nachfragen“, sagt Oliver.
Beratungsangebote gibt es also genug. Trotzdem wird immer wieder betont, die Inklusionsarbeit an der Uni Konstanz sei noch ganz am Anfang. Denn auch wenn viel beraten wird, so zeigt sich immer wieder, dass gerade die Barrierefreiheit noch lange auf sich warten lässt. „Das ist weit entfernt von perfekt“, erzählt Christiane Harmsen. Sie fügt hinzu: „Aber ich würde sagen, dass schon eine sehr große Sensibilisierung für das Thema da ist, wir arbeiten daran und es besteht eine Bereitschaft, tatsächlich Dinge umzusetzen.“ So scheint nicht das fehlende Verständnis das Problem zu sein, sondern vielmehr die Umsetzung. Da aber Inklusion ohne Barrierefreiheit nicht funktioniert, ist die Umsetzung von großer Bedeutung.
Doch was genau fehlt für eine barrierefreie Uni Konstanz?
Um Barrierefreiheit zu erreichen, braucht es zwei Schritte: das Identifizieren von Barrieren und das Abbauen dieser. „Wir sind immer wieder damit befasst, zu schauen, wo die Schwellen liegen, die für uns natürlich zunächst häufig nicht sichtbar sind“, erzählt Nora Binder. Da natürlich am aller Besten die Betroffenen selbst über bestehende Hürden Bescheid wissen, ist ein Austausch mit den Studierenden überaus wichtig. Christiane Harmsen betont: „Unsere Arbeit besteht daraus im Dialog mit Studierenden und anderen Kolleginnen und Kollegen zu schauen: Was lässt sich noch verbessern?“
Dass sich am Bau der Uni noch vieles verbessern lässt, ist klar. „Für alle die nicht gut Treppen laufen können, ist die Uni Konstanz natürlich ein großes Abenteuer“, betont Christiane Harmsen. Unebene Böden, unzählige Treppen und fast unerreichbare Räume, wie zum Beispiel im Gebäude H, sind die Realität. „Die Uni ist in großen Teilen jetzt 50 Jahre alt und es gibt Bereiche, die sind nicht ausreichend barrierefrei“, bestätigt Henrik Terwellen, Leiter des Sachgebiets Bauten und Technik vom Facility Management. Er fügt hinzu: „Wo wir auf jeden Fall dran sind, ist bei allen Neubauten, bei allen Sanierungen, so viel wie möglich natürlich barrierefrei zu machen, umzugestalten, nachzurüsten.“
Wie viel tatsächlich barrierefrei gestaltet werden kann, hängt aber auch vom Eigentümer der Uni Konstanz ab. „Sämtliche Gebäude gehören dem Land Baden-Württemberg. Das Bauamt ist Eigentümer und plant hier fast alle Maßnahmen“, erklärt Henrik Terwellen. Ein gewisses Maß an Barrierefreiheit wird bereits durch die gesetzlichen Bauvorgaben hinsichtlich Inklusion umgesetzt. So gibt es beispielsweise genaue Vorgaben für den Bau von Aufzügen, Türen oder von öffentlichen Sanitärräumen. Diese Bauvorgaben sind ein erster Schritt, doch decken noch lange nicht alle Hürden für Menschen mit Behinderungen ab. Will man in Zukunft über die gesetzlichen Bauvorgaben hinausgehen, so stellt sich gleich die große Frage nach den finanziellen Mitteln.
„Wenn die Universität mehr Barrierefreiheit haben möchte, also die gesetzlichen Vorgaben übertreffen möchte, dann kommt dieses Geld nicht vom Finanzministerium, vom Land, sondern dann muss die Universität mit eigenen Mitteln oder mit guten Argumenten zwingend begründen, weshalb das hier so sein muss.“
Henrik Terwellen, Leiter des Sachgebiets Bauten und Technik vom Facility Management
Es ist also eine Frage der Abwägung, eine Frage der Priorität: „Wir haben immer einen Zielkonflikt: Die finanziellen Mittel sind begrenzt. Worein investiert man das Geld?“, fügt Terwellen hinzu.
Barrierefreiheit geht aber noch viel weiter. Auch im Digitalen muss Barrierefreiheit hergestellt werden. „Eines der Projekte der Uni ist es, unsere Internetseiten barrierefrei umzubauen“, betont Christiane Harmsen, Beauftragte für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Seebeeinträchtigte Menschen sollen beispielsweise die Möglichkeit bekommen, sich die Webseite vorlesen zu lassen. Es gibt also viel zu tun. Barrierefreiheit wird ein immer größeres Thema und die Anlaufstellen bemühen sich um Handlung. Hinzu kommt eine andere Entwicklung: „Gleichzeitig ist es aber auch so, dass vermehrt Studierende mit Behinderungen an die Unis kommen“, erläutert Nora Binder. „In der Tendenz diversifiziert sich die Universität zunehmend und mit diesem Chancengleichheitsanspruch wächst gleichzeitig der Aufgabenbereich und der Bedarf an Ressourcen“, fügt Harmsen hinzu. Es fehlt also an Ressourcen, insbesondere in Form von Geld und Arbeitskraft.
Doch muss man Inklusion nicht vielleicht auch grundlegend neu denken?
Gleichzeitig wird auch ein anderer Umgang mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen im Allgemeinen gefordert. Julia Hölzle ist Mitgründerin der Initiative [Un]Sichtbar und setzt sich genau für diese gesellschaftliche Veränderung ein. Sie berichtet: „Bisher ist es so: Die Diagnose ist ein Stempel, der dem Menschen aufgedrückt wird und dann bist du anders. Du bist aus der Gesellschaft raus. Du bist nicht mehr normal.“ „Das wollen wir verändern“, fügt sie hinzu, „mit unserer Initiative fangen wir nun an, immer häufiger darüber zu sprechen. Wir wollen den Menschen sagen: Du bist nicht anders! Wir wollen einen Umbruch schaffen, hin zu mehr Transparenz.“ Gemeinsam mit ihrer Mitgründerin Hannah Schade setzt sie sich dafür ein, dass Probleme, Krankheiten und Behinderungen normalisiert werden. „Denn es ist normal“, betont Julia Hölzle.
Die Vision: „Das Unsichtbare, sichtbar machen zu dürfen!“
Julia Hölzle, Initiative [Un]Sichtbar
Auch an der Universität Konstanz braucht es ein Sichtbarmachen dieser Themen. Genau das soll nun durch ein dreijähriges Projekt mit dem Titel „Health Empowerment – Gesund Studieren, Lehren, Forschen und Arbeiten“ erreicht werden. Das Ziel dieses Projekts, gefördert durch die Techniker Krankenkasse, ist der Aufbau eines universitären Gesundheitsmanagements. Die erste Projekthälfte sieht auch die Entwicklung eines „Aktionsplans Inklusive Hochschule“ vor: „Wir arbeiten an einem Leitfaden, der genau darlegt, was noch unternommen werden muss für eine inklusive Uni Konstanz“, erklärt Christiane Harmsen. Bis Juni 2024 soll dieser in Arbeitsgruppen ausgearbeitet werden. Auch Studierende, die sich mit dem Thema Gesundheit und Inklusion beschäftigen wollen, sind gesucht. Aktionspläne sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Am Ende braucht es den Willen zur Umsetzung. Von uns allen.
Weitere Informationen findet ihr hier:
- Hauptseite: https://www.uni-konstanz.de/studieren/rund-ums-studium/studieren-mit-behinderungen-und-chronischen-erkrankungen/
- Studis mit Studis: https://www.uni-konstanz.de/studieren/rund-ums-studium/studieren-mit-behinderungen-und-chronischen-erkrankungen/studis-mit-studis/
- Informationen zum Nachteilsausgleich: https://www.uni-konstanz.de/studieren/rund-ums-studium/studieren-mit-behinderungen-und-chronischen-erkrankungen/nachteilsausgleich/
- Allgemeine Infoseite und dem Leitfaden: ‚Inklusion in Studium und Lehre‘: https://www.uni-konstanz.de/studieren/rund-ums-studium/studieren-mit-behinderungen-und-chronischen-erkrankungen/informationen-fuer-studierende/
- Psychotherapeutische Beratungsstelle PBS (Seezeit): https://seezeit.com/beratung/psychotherapeutische-beratung/
- Beratungsnavigator der Uni Konstanz: https://www.uni-konstanz.de/beratungsnavigator/
- Viele weitere Infos rund um das Thema Gesundheit gibt es ab Mitte September auf der Landingpage “Universitäres Gesundheitsmanagement”: https://www.uni-konstanz.de/abteilung-fuer-akademische-und-internationale-angelegenheiten/start/universitaeres-gesundheitsmanagement/