Vom Leiden der Prüfungsängstlichen

Isabelle studiert Psychologie an der Universität Konstanz und leidet unter Prüfungsangst. Mittlerweile kann sie mit Prüfungs- und Vortragssituationen wieder recht gut umgehen, das war aber nicht immer so. Serafina Strömsdörfer erklärt, was Prüfungsangst ist, woher sie kommen könnte und was man dagegen tun kann.

Etwa seit der fünften Klasse ist es unangenehm für Isabelle, vor Lehrpersonen oder ihren Mitschüler:innen zu sprechen. Einmal verschlägt es ihr beim Vorstellen einer Hausaufgabe vor der ganzen Klasse im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Sie bekommt kein Wort mehr heraus und schweigt einfach. Auch als die Lehrerin sie fragt, ob alles in Ordnung sei, kann sie nicht antworten. Irgendwann erlaubt ihr die Lehrerin, sich wieder zu setzen und fährt mit dem Unterricht fort. Isabelle erzählt, dass diese Situation für alle Beteiligten unangenehm gewesen sei. „Auch für mich“ ergänzt sie. „Mein Kopf war einfach leer“.

Vor unbeschriebenen Blättern sitzen und nervös vor einer Prüfung sein sind für Isabelle anfangs noch Aspekte ihrer Ängstlichkeit, auf die sie gut reagieren kann. So beginnt sie, sich äußerst akribisch auf alle Eventualitäten einer Klassenarbeit vorzubereiten. Sie lernt Texte auswendig, bis sie diese beinahe wörtlichen zitieren kann und versucht, ihre massive Angstreaktion zeitlich nach vorne zu ziehen, sodass Isabelle diese schon vor der Prüfung (zum Beispiel Zuhause) durchleben kann. Dadurch ist ihr Körper aber extrem ausgelaugt, wenn es tatsächlich an die Prüfung geht. Eingeschränkte Aufmerksamkeit, eine kürzere Konzentrationsspanne und Erschöpfung sind die Folgen.

Illustration: Lieselotte Stoll

Lampenfieber oder Riesenangst?

Ich bin doch auch aufgeregt vor Prüfungen und Referaten, denkst du jetzt möglicherweise. Was unterscheidet also Nervosität im Bezug auf eine Situation, in der andere die eigene Leistung oder Person bewerten könnten, von „Prüfungsangst“? Aus der Perspektive der klinischen Psychologie werden Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften erst dann als „pathologisch“ (mit Krankheitswert) bewertet, wenn durch letztere Leidensdruck für die betroffene Person selbst oder andere entsteht. Erst dann, wenn die Angst vor Klausuren, Vorträgen oder anderen ähnlichen Situationen ein durchschnittliches Funktionieren in relevanten Lebensbereichen (zum Beispiel in Freundschaften, sozialen Kontexten, Ausbildung oder Berufsleben) einschränkt und für die betroffene Person problematisch wird, kann also von einer „Angst mit Krankheitswert“ und somit auch von einer „Störung“ gesprochen werden.

Der Elefant war mal eine Mücke

Anfangs ist Isabelles Angst noch differenziert: Nur in manchen Situationen und in Abhängigkeit von der Gruppengröße oder der anwesenden Lehrerperson zeigen sich massive Nervosität und körperliche Anspannungssymptome.  Weil sie in Stresssituation beginnt, undeutlich und leise zu sprechen, muss sie einmal vor der Klasse Sprechübungen vortragen. Allein dieser Bericht einer solch bloßstellenden Erfahrung illustriert, wie wenig Sensitivität für Ängste und Unsicherheiten im schulischen Kontext vorhanden sind.

Wie viele Mitglieder hat der Prüfungsangst-Club?

Wie häufig Prüfungssangst tatsächlich vorkommt, lässt sich schwer bestimmen. Wie so oft hängt die Rate davon ab, wie viele der Prüfungsängstlichen überhaupt auf ihre Angst aufmerksam werden und diese auch diagnostizieren und behandeln lassen, sodass konkrete Zahlen in die Statistiken einfließen können. Während die AOK von einer Betroffenenrate von 15 Prozent ausgeht, berichtet der Spiegel in einem Artikel von 2017, dass laut PISA-Studien 55 Prozent der Schüler:innen im internationalen Vergleich betroffen seien. Wie hoch die Zahl tatsächlich ist, lässt sich nur schätzen. Das ICD (International Classification of Diseases)-Handbuch der WHO (World Health Organisation) definiert keine eindeutigen Diagnosekriterien für Prüfungsangst, wie es etwa bei der sozialen Phobie der Fall ist, für die konkrete Diagnoserichtlinien vorliegen. Anhand eben dieser Vorgaben kann bewertet werden, ob eine Person (zumindest laut den für dieses Störungsbild definierten Rahmenbedingungen) als sozialphobisch gelten kann, oder nicht. Das Bild der Prüfungsangst ist dagegen äußerst vage und schwer von verwandten Störungen des Angstbereiches, zum Beispiel von der Panikstörung (Wiederholtes Auftreten von Panikattacken, zum Teil ohne externen Auslöser, fortwährende Sorgen bezüglich Panikattacken), abzugrenzen.

Nervosität (mittel) + umgekehrtes U = starke Leistung

Die Angst vor Prüfungssituationen oder anderen Kontexten, in denen die individuelle Leistung messbar gemacht werden kann, muss aber nicht per se ein Hindernis für den Menschen, der sich einer Prüfung unterzieht, darstellen. Das „Yerkes-Dodson Law“ geht von einem umgekehrt u-förmigen Zusammenhang zwischen „Arousal“ (psychologischer Begriff für allgemeine Erregung oder Aktivierung) und Leistungsfähigkeit aus. Während fehlende Aufregung die Leistung eher schmälert, sorgt ein moderates Maß an Nervosität für eine Steigerung der Leistung, weil aufgabenrelevante Informationen besser gefiltert und der Fokus geschärft werden.

Illustration: Lieselotte Stoll

Angst in Kopf und Körper

„Wenn ein Referat anstand hat sich mein ganzer Körper schon auf dem Weg zum Klassenzimmer gewehrt. Ich habe total gezittert, habe keine Luft mehr bekommen und auch sehr geweint.“ In emotional aufgewühlten Zuständen wie diesen sei Isabelle regelmäßig in Prüfungssituationen hinein gegangen, danach habe sie den restlichen Tag über geschlafen, weil das Prüfungsereignis am Tag und vor allem die vorher durchlebte Angst so anstrengend und kräftezehrend gewesen seien. 

Sie berichtet, dass sich in ihr ein immer größerer Widerstand gegen prüfungsähnliche Situationen gebildet habe, was schließlich dazu geführt hat, dass sie sich im Allgemeinen ängstlich gefühlt hat. Diese Furcht war nicht mehr auf Prüfungssituationen spezialisiert, sondern trat auch in anderen Momenten auf. Egal, ob eine schriftliche oder mündliche Prüfung anstand, Isabelle durchlitt starke Panikattacken vor jeglichen Tests – damit bestätigte sich, dass ihre Angst vor Prüfungssituationen überdurchschnittlich stark ausgeprägt war. Ganz zu Schweigen von dem generellen Anspannungsbefinden, das bei ihr fast schon zur Normalität geworden ist. Die Panikattacken „verselbstständigten“ sich und sind auch scheinbar grundlos in Nicht-Prüfungssituationen aufgetreten. Beispielsweise ist es ihr schwergefallen, Vorlesungen oder die Mensa zu besuchen. Am Anfang ihres Psychologie-Studiums in Konstanz hat Isabelle daher die Entscheidung getroffen, eine Therapie zu beginnen. Während es in ihrer Schulzeit noch normal für sie gewesen ist, auch am Tag vor einer Prüfung nicht geschlafen zu haben und vor einer Klausur kaum ansprechbar gewesen zu sein, kann sie jetzt mit Ruhe auf vor ihr liegende Prüfungssituationen blicken.

Wie weiter machen bei Prüfungsangst?

Zuerst war Isabelle in Gruppentherapie, dann hat sie Einzelsitzungen bei einer Verhaltenstherapeutin besucht. Dabei habe ihr vor allem die Regelmäßigkeit der Einheiten geholfen, ihre Anspannungszustände in den Griff zu bekommen. Die große Verbesserung ist aber bei Isabelle hauptsächlich durch verschriebene Medikamente eingetreten. Seit sie eben diese Medikamente einnimmt, sei das latente Stressgefühl, das Isabelle seit einigen Jahren begleitet hat, wie von ihr abgefallen. „Ich habe das Gefühl, jeder Moment ist ein Re-learning. Die alten Erfahrungen werden überschrieben. Es ist immer noch so, dass ich in manchen Situationen kurze Impulse wie „Oh Gott! Hilfe! Angst!“ bekomme. Ich kann diese Warnsignale aber schnell erkennen und mich selbst dazu bringen, erstmal in die Situation hinein zu gehen, anstatt ihr auszuweichen.“, berichtet Isabelle.

In Bezug auf anstehende Prüfungen sagt Isabelle: „Es ist ungewohnt, nicht die ständige Angst als Motivator zu haben,“. Für sie sei viel Neues möglich geworden, auf das sie sich vorher nicht konzentrieren konnte. Zum Beispiel hat sie den Aktivismus für sich entdeckt und engagiert sich bei einigen Projekten, an denen sie neben der Uni mitarbeitet. Dadurch liegt ihr Fokus nicht auf Prüfungen, weshalb sich Isabelle als nahezu unterdurchschnittlich ängstlich empfindet. 

„Ich weiß aber auch, dass diese extreme Entspanntheit ebenfalls eine Vermeidungsstrategie ist. Ich ignoriere halt einfach, dass es Prüfungen gibt, die ich noch schreiben muss. Ich gehe im Moment einfach in Klausuren, ohne mich vorher zu sehr damit beschäftigt zu haben.“

Welche die zugrundeliegende Angst hinter ihrer Prüfungsangst sein könnte, kann Isabelle nicht genau benennen. Sie berichtet, dass sie einige Hypothesen habe, diese aber nicht sicher bestätigen könne. Versagensangst, die Überzeugung, ein schlechtes Prüfungsergebnis zu erhalten, die Sorge, angeeignetes Wissen nicht abrufen zu können. „Eigentlich ist so eine Prüfung ja keine Gefahrensituation. Es wird Wissen abgefragt und wenn man etwas nicht weiß, dann weiß man es halt nicht“, sagt Isabelle dazu. Dennoch sei die Anspannung massiv und in vielen Fällen beeinträchtigt dieses unterschwellige Stressgefühl das Leben Betroffener auf vielfältige Weise.

Was kann bei Prüfungsangst helfen?

Neben Therapien können auch Achtsamkeitsübungen und andere Entspannungstechniken und -rituale helfen, um die allgemeine Anspannung, die viele Menschen mit Prüfungsangst nur zu gut kennen, zu reduzieren und in Schach zu halten.

Hast du das Gefühl, unverhältnismäßig besorgt zu sein, wenn es in Richtung Klausurphase geht? Bereitest du dich übergenau vor, indem du jede Detailinfoirmation in dich aufzunehmen versuchst oder schiebst Prüfungen immer wieder ins nächste Semester? Hast du Kopf- oder Bauchschmerzen, Schwindelsymptome, Schlafstörungen oder andere körperliche Beschwerden, bei denen du keine organische Ursache vermutest oder die im Zusammenhang mit Prüfungssituationen auftreten?

Wende Dich an…

  • Eine anonyme Hotline wie Nightline Konstanz (Telefon: 07531 / 206 886 )
  • Deinen Fachbereich bzw. die Studierendenberatung
  • Eine psychotherapeutische Beratungsstelle oder eine:n Therapeut:in
  • Menschen, die Erfahrung mit Prüfungsangst (und Ängsten im Allgemeinen) haben und dich unterstützen und beraten können

Quellen: 

https://www.aok.de/pk/magazin/wohlbefinden/selbstbewusstsein/pruefungsangst-die-10-besten-tipps-zur-ueberwindung/

https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/pisa-studie-zum-wohlbefinden-pruefungsangst-unabhaengig-von-testhaeufigkeit-a-1143674.html

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