Von ihren verschiedenen Plätzen beobachtete sie nicht nur, wie die Passanten weniger wurden, sondern sich auch anders verhielten. „Da war so eine Anspannung. Das habe ich oft erlebt, viele waren richtig aggressiv, weil sie nicht wirklich raus durften.“ Und mit Aggression hat sie genug Erfahrung gemacht: ein übergriffiger Partner ist Bestandteil einer langen Geschichte, die sie quer durch Deutschland und bis auf die wenigen trockenen Pflastersteine in Konstanz führte, auf die die dicken Tropfen jetzt immer mehr Spritzwasser werfen. Die 37-Jährige ist seit anderthalb Jahren obdachlos, eine Situation, in der den Menschen am Rande der Straßen und der Gesellschaft sowieso genug Geringschätzung entgegen schlägt. Besonders hart treffen sie herabwürdigende Erklärungen von Eltern gegenüber deren neugierigen Kindern. Sie berichtet, wie eine Mutter ihre Situation schnell als bloße Faulheit abtat. „Das macht mich so wütend!“, endet sie, man hört diese Wut auch in ihrer Stimme.
„Das Corona-Virus ist nicht mein größtes Problem“
Dem Virus begegnet sie mit reinem Fatalismus: „Das ist nicht mein größtes Problem. Wenn ich Corona habe, nehme ich das einfach so hin, dann ist das eben so. Entweder ich kämpfe dagegen an. Aber wenn ich zu schwach bin, dann bin ich zu schwach.“ Was nicht bedeutet, dass sie sich nicht an die Regeln hält, der Mundschutz steckt mit ihrer Tasche unter dem schützenden Müllbeutel.
Zurzeit wartet sie auf einen Platz in einem Betreuten Wohnen. Auch während des sogenannten „Lockdowns“ konnte sie ausweichen: „Ich habe zwischenzeitlich bei einer Bekannten gewohnt. Dort habe ich aber nur geschlafen und bin tagsüber rausgegangen.“ Andere traf es härter. Denn geschlossene Geschäfte, Läden, Dienstleistungsbetriebe bedeuten auch viel verschlossenen Raum. Raum, in dem Wohnungslose normalerweise schlafen oder sich aufhalten können. Jessica konnte die Konsequenzen für andere beobachten: „Obdachlose wie ich haben sich überall was gesucht. Ob das eine Brücke war oder ein Platz im Herosé, du hast da wirklich sechs, sieben, acht Mann auf einem Haufen gesehen, obwohl die sich gar nicht kannten. Da sind dann einige noch mehr abgerutscht, haben mehr Alkohol getrunken, Drogen genommen und wurden aggressiv.“
Besonders aber das, was Passant_innen ihr normalerweise in den Becher vor ihren Füßen werfen, schnurrte zusammen: „An einem Tag hast du dann höchstens zwei bis drei Euro bekommen. Aber wenn man nicht anders kann, dann muss man da einfach durch.“
Wir können nach Hause gehen, doch Wohnungslose bleiben auf der leeren Straße zurück
Als sich so viel Interaktion in den digitalen Raum zurückzog, blieben die Wohnungslosen einfach auf der leeren Straße zurück. Die Appelle lauteten: „Bleib zuhause!“, „#stayathome“, und der dazugehörige Instagram-Sticker mit dem kleinen Dach und farbigen Schornstein symbolisiert eine scheinbare Selbstverständlichkeit. Das sichere Dach über dem Kopf.
Am nächsten Tag scheint wenigstens die Sonne. „Zuhause bleiben ist für uns eben nicht.“, meint Gego, dessen Namen man spricht wie die Echse, nur eben nicht so schreibt. Von Vorsicht und Abstand hält er viel, von den angebotenen Schutzmaßnahmen für Wohnungslose eher weniger: „Wenn es in der Unterkunft einer hat, haben es alle.“ Er halte sich selbst für stabil, aber besonders die Suchtkranken für riskant untergebracht. Falls der Virus dort umgehe, dann „klingt das vielleicht makaber, aber dann werden einige Plätze für Obdachlose frei.“ Und während für andere auch die stille Stadt zur Belastung wurde, kam er mit der Situation gut klar: „Ich bin sowieso mehr der Typ Einzelgänger,“ weshalb ihm die Erfahrungen in den elf Jahren, die er bereits auf der Straße lebt, auch gezeigt haben, dass Notunterkünfte keine Lösung für ihn sind.
„In der Corona-Zeit haben mir einige Leute ganze Tüten voll Essen eingekauft“
Dafür hat er draußen einige Hilfsbereitschaft erlebt. Menschen sahen ihn ohne Passanten dasitzen und ließen einfach mehr Geld da. „In der Corona-Zeit habe ich viel mehr Scheine bekommen. Es sind auch einige Leute gekommen und haben mir eine ganze Tüte Essen eingekauft, das fand ich voll süß von denen.“
Hilfsangebote kamen auch bei Jörg Fröhlich an, der ganz und gar nicht auf der Straße sitzt, sondern in einem Büro im ersten Stock am Lutherplatz. Seinen Schreibtisch nimmt zu einem großen Teil ein gewaltiger Spuckschutz ein. „Wie im Supermarkt“, lacht er. Nur bietet er nicht Obst und Nudeln an, sondern eine neue Perspektive für ein Leben in der Krise: man könnte sagen, an absoluten Tiefpunkten. Bestenfalls.
Obst für die Hilfsbedürftigen
Fröhlich leitet die AGJ-Wohnungslosenhilfe, die ihre Arbeit wegen des Virus ebenfalls gewaltig umstellen musste und bei den Hilfsbereiten dann vor allem um Geld bat – „und Obst, damit die Leute was Gesundes essen können“.
„Keiner sitzt mehr in seinem Büro“, berichtet er. Die Grundversorgung der Hilfsbedürftigen konnten sie aber weiterhin leisten, auch wenn sie die Kapazitäten stark begrenzen mussten. Duschen, Waschmöglichkeiten, Postausgabe und Geldauszahlung konnten weiterhin stattfinden. Letztere auch durch ein Fenster, vor das sie ebenfalls einen Spuckschutz montiert haben. Wer das Gebäude noch betreten durfte, mussten sie begrenzen. Nur noch die Fälle mit der größten Dringlichkeit konnten ins Gebäude: Menschen, die auf der Straße leben, also in Konstanz eine Gruppe von ungefähr 25 bis 30 Personen.
„Wir haben von Fall zu Fall entschieden, wer rein darf“
Wer bereits in einer der städtischen Unterkünfte versorgt wurde, dem stand das Gebäude nicht mehr offen. Doch auch für die Menschen in den Notunterkünften konnte etwas erreicht werden. Sie durften nun den ganzen Tag in den Gebäuden bleiben, um ausfallende Aufenthaltsmöglichkeiten auszugleichen. „Normalerweise sind wir sehr niedrigschwellig, hier kann jeder erstmal anonym reinsitzen. Unsere Zielgruppe ist ja schon überall durch das soziale Netz gefallen und misstrauisch“, erzählt Fröhlich. Gerade dieses Grundprinzip sozialer Arbeit griff das Virus an. „Wir haben von Fall zu Fall entschieden, wer rein darf“. Keine Betrunkenen zum Beispiel, weil diese kaum zu einem Corona-konformen Verhalten anzuhalten sind.
„Das war schon schwierig, bis das hier in den Köpfen auch verankert war“, berichtet Fröhlich. So sind die sozialen und psychischen Probleme, die manche auf die Straße gebracht haben, jetzt wiederum eine Gefahr, da sie Übertragungen indirekt erleichtern könnten, erläutert er: „Das ist auch eine Gruppe, die sich da schwer dran halten kann, sie können die Gefahreneinschätzung für sich nicht so aufrecht erhalten aufgrund ihrer psychischen Verfassung.“
Zum Glück keine Ausbreitung des Corona-Virus unter Wohnungslosen
Dass es letztlich nicht zu einer Ausbreitung des Virus unter Wohnungslosen gekommen ist, „das war großes Glück“, betont er mehrfach. „Viele Leute auf engstem Raum, so ist die Obdachlosenunterbringung einfach. Es wundert mich im Nachhinein, dass wir von keinem positiv getesteten Fall gehört haben.“ Dass ihm die möglichen Infektionen große Sorgen bereiteten, ist ihm immer noch anzumerken. Dabei finden sich gerade unter den Wohnungslosen viele besonders gefährdete Vorerkrankte: „Durch Erkrankungen ist das Armutsrisiko hoch, viele Leute sind deswegen bei uns. In der Situation vernachlässigen die Menschen den Bereich Gesundheit oft am ehesten. Und wenn man auf der Straße schläft, ist das meist wirklich eine sehr gesundheitsschädliche Situation.“
„Was ist mit der Quarantäne für jemanden, der im Stadtpark schläft, wenn er oder sie Corona bekommt? Das haben mich viele gefragt, wo müssen wir dann hin?“ Da Fröhlich die Frage auch nicht beantworten konnte, gab er sie weiter an Stadt und Landratsamt. Nur auf eine schlüssige Antwort wartet er bis heute.
Wie soll es im Winter weitergehen?
Genauso wenig weiß er bisher, wie umgehen mit den aufgrund von 1,5 Metern Abstand reduzierten Kapazitäten, wenn es wieder kälter wird und der Winter einbricht. „An Planung gibt es da zurzeit gar nichts. Man wartet erstmal ab, ich weiß es nicht.“
Wie groß die Unsicherheit unter den Obdachlosen zeitweise wurde, zeigte die Gerüchteküche. „Einmal hat sich die Nachricht verbreitet, die Stadt mache auch noch die Toiletten zu.“ Die Geschichte ging auf eine gewöhnliche Reinigungsmaßnahme zurück, doch zumindest weckte sie auch bei Herrn Fröhlich ungute Gefühle: „Das war so ein Punkt, wo ich mir dachte, hey: jetzt haben die Leute ja gar nichts mehr.“
Nur von einer Änderung wünscht sich Fröhlich, sie möge doch bitte weitergeführt werden: Um Publikumsverkehr zu vermeiden, dürfen die Geldauszahlungen derzeit monatlich durchgeführt werden. Normalerweise finden diese wöchentlich statt, um Betrug zu vermeiden, in Höhe von, je nach Anspruch, meist etwa 90 Euro. Doch die Erfahrung zeige, dass die Menschen durchaus mit dem Geld haushalten können. Zwar gehe dem ein oder anderen das Geld zu früh aus – aber das passiere eben auch bei wöchentlichen Zahlungen. Wer umgekehrt wirtschaftet, könne nun größere Anschaffungen wie neue Schuhe aus dem größeren Betrag leichter bewerkstelligen. Die wöchentliche Zahlung raube viel Autonomie, empört sich Fröhlich: „Da lässt man Menschen in einer Abhängigkeit, die nicht normal ist.“ Deshalb appelliert er an die Jobcenter, in Zukunft weiterhin den monatlichen Rhythmus zu ermöglichen.
Hallo, ich wünschte der Artikel wäre noch etwas länger und ausführlicher. Aber man kann nicht alles haben. 😉 VG
Servus! Manchmal wünsche ich mir mehr solcher Artikel. Vielen Dank. Grüße aus Bayern