Die Konstanzer Nachtwächter-Stadtführung – Ein Ausflug ins Zwielicht der Konstanzer Geschichte

Ein Rundgang durch die Altstadt aus der Perspektive eines Nachtwächters, das ist möglich auf den Führungen von Ulrich Büttner. Der Historiker interessiert sich für das alltägliche und allnächtliche Leben im mittelalterlichen Konstanz. Wer teilnimmt, lernt so einiges – und kommt unwillkürlich ins Nachdenken über die eigene Auffassung von Geschichte.

„Geschichte ist wie ein dunkler Kontinent, auf dem ab und zu ein Licht aufleuchtet“, sagt der Historiker Ulrich Büttner. „Das Allermeiste wissen wir einfach nicht.“ Der gebürtige Konstanzer lehrt Geschichte am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium, wesentlich bekannter dürfte er allerdings durch eine andere Tätigkeit sein. Mit Mantel und Laterne schlüpft Büttner regelmäßig in die Rolle eines mittelalterlichen Nachtwächters und führt Interessierte durch die historische Konstanzer Altstadt.

Gleich zu Beginn räumt Büttner mit einem Mythos auf. „Was ich sicher nicht getan habe, war zu singen“, erklärt er und bleibt dabei in seiner Rolle als Nachtwächter. „Das berühmte Lied ist erst sehr viel später entstanden.“ Eine eindrucksvolle Laterne gehört hingegen unbedingt zum Outfit. Denn ein Licht ins Dunkel zu bringen, war die Aufgabe eines Nachtwächters vor 600 Jahren. „Ich war ein städtischer Beamter, der nachts mit einem Licht durch die Straßen zog und stündlich die Bürger weckte“, sagt Büttner. An Durchschlafen sei in mittelalterlichen Städten nicht zu denken gewesen. Die Bürger sollten wachwerden, um kurz nach dem Rechten zu sehen und zu lauschen, bevor sie weiterschliefen. Außerdem stellten die Nachtwächter sicher, dass alle am nächsten Morgen rechtzeitig aufstanden, um ihrer Arbeit nachzugehen.

Das Mittelalter bei Nacht

In Konstanz teilten sich sechs Nachtwächter die Arbeit. Sie waren für die städtische Bevölkerung Feuerwehr, Polizei und Wecker in einem. Trotz ihrer wichtigen Aufgabe, sagt der Stadtführer, habe ihr Gewerbe zu den unehrlichen Berufen gezählt. Auch Henker oder die meist zurückgezogen lebenden Müller zählten dazu. „Die Logik war simpel“, erklärt Büttner, „wir Nachtwächter arbeiteten im Dunkeln, im Reich der Dämonen.“

Es sind die kleinen, etwas skurrilen, auch düsteren Geschichten, die Ulrich Büttner faszinieren. Der Historiker hat sie bereits in mehreren Büchern gesammelt. Im Geschichtsunterricht hätten diese ,kleinen Geschichten‘ oft wenig Raum. Was geschichtswürdig ist, hänge auch immer davon ab, wie Geschichte erzählt wird. „Wir Historiker nehmen die Belege, die wir haben und konstruieren daraus eine Erzählung“, sagt Büttner. Ab und zu sind Abstriche an historischer Authentizität notwendig, schon allein aus praktischen Gründen. „Eigentlich müsste in der Laterne statt einer Kerze eine Tranfunzel brennen“, sagt der Nachtwächter. „Das ist zwar historisch nicht korrekt, aber eure Nasen danken es mir.“

Eine Führung durch den Alltag der einfachen Menschen

Auf seiner Tour durch die Zeit orientiert sich Büttner an den existenziellen Grundlagen des mittelalterlichen Lebens. „Feuer war – noch vor Seuchen oder dem Krieg – die größte Gefahr meiner Zeit“, sagt er als Nachtwächter während der Führung. „Darum waren unsere Rundgänge auch so wichtig.“ Brannte ein Haus, brannte rasch die ganze Stadt. Büttner führt den Großen Brand von London an, der 1666 nahezu alle mittelalterlichen Bauten der Stadt zerstörte. Der Auslöser: Mutmaßlich ein unachtsamer Bäcker. Wenn ein Nachtwächter einen Brandherd entdeckte, wurde darum sofort Alarm geschlagen und eine Löschkette gebildet. Unachtsamkeit hingegen sei streng geahndet worden, sagt Ulrich Büttner: „Wenn man einen Nachtwächter schlafend erwischte und es brannte irgendwo, konnte ihn das den Kopf kosten.“

Ein Problem seien vor allem die verwendeten Materialien gewesen, sagt der Historiker. Stein biete den meisten Schutz, sei aber auch am teuersten. „Wer sich ein Haus ganz aus Stein hinstellen konnte, der war im wahrsten Sinne des Wortes steinreich“, bemerkt Büttner, „und daher stammt auch dieser Begriff, er hat nichts mit Edelsteinen zu tun.“ Die Wahl dauerhafter Materialien sei also eine Frage des Vermögens gewesen. Was heute noch an mittelalterlicher Architektur überdauere, sei letztlich das Vermächtnis der Wohlhabenden – und natürlich der aufwendigen Restaurationsarbeiten.

Auf seinen Stadtführungen möchte Büttner das Leben der einfachen Bevölkerung in den Vordergrund rücken. Zweifellos gäbe es in Konstanz auch das zu erzählen, was man als Herrscher- oder Höhenkammgeschichte bezeichnet. „Wen die Spanienfeldzüge Karls des Großen interessieren, der kann sich das anhören, wenn ich einen Vortrag an der Volkshochschule halte“, sagt der Historiker und ergänzt: „Die meisten von uns werden nie mit den Mächtigen ihrer Zeit zu tun haben.“

Ein pikantes historisches pflaster

Ein unumgängliches Event der Konstanzer Geschichte streift der Historiker dann doch. Anlass ist das ,Haus zum Vorderen Tanz‘ in der Hohenhausgasse. Als 1414 das berühmte Konzil in Konstanz einberufen wurde, erzählt Büttner, reisten nicht nur kirchliche Würdenträger an. Im Zuge des Weltereignisses seien nach der Richental-Chronik etwa 700 sogenannte Hübschlerinnen in die Bischofsstadt gekommen, um sexuelle Dienstleistungen anzubieten – recht beachtlich bei einer ansässigen Bevölkerung von damals rund 6000 Menschen. Doch auch hier, betont Büttner, musste alles in geregelten Bahnen verlaufen: „Prostitution war eine Sünde, aber eine notwendige“. Das Haus zum Vorderen Tanz etwa sei einst ein bischöflich betriebenes Bordell gewesen.

Foto: Sophia Bogdahn

Anhand einer weiteren Anekdote schildert Büttner, wie die Vergangenheit Konstanz bis heute zu einem delikaten Pflaster macht. Zu den Konzil-Feierlichkeiten 2014 bis 2018 hatte die Stadt neben zahlreichen geistlichen Würdenträgern auch das Oberhaupt der katholischen Kirche eingeladen. Vom päpstlichen Sekretariat kam dennoch eine Absage. In den Augen des Stadtführers möglicherweise auch, weil Konzile als über dem Papst selbst stehende Gremien bis heute ein vermintes Gebiet für den Heiligen Stuhl seien: „Das hat sich Franziskus, der ja ein liberaler Papst gewesen sein mag, nicht getraut.“

Die Geschichten werden Ulrich Büttner vorerst nicht ausgehen, auch nach fast 25 Jahren als Stadtführer. „Ich habe mich seit meinem Studium gerne mit Konstanzer Geschichte beschäftigt“, sagt der Historiker. „Die Mischung aus Moderne und Vergangenheit, Landschaft und Geografie ist etwas Besonderes.“ Man müsse nicht Geschichte studiert haben, um Führungen anzubieten, eine sorgfältige Recherche sei ihm aber wichtig. „Ich möchte vor allem keine Klischees bedienen“, sagt Büttner. „Ich versuche zu unterhalten und so gut es geht authentisch zu sein.“

HISTORISCHES BEWUSSTSEIN SCHAFFEN

Der Rundgang endet, wie er begonnen hat, am Münsterplatz. Im heutigen Gebäude des Bildungszentrums Konstanz auf der Nordseite des Münsters, residierte einst der Konstanzer Bischof. Heute hat Ulrich Büttner hier sein Büro. Wie bei allen aus dem Mittelalter ,erhaltenen‘ Häusern ist vom bischöflichen Palais im Inneren nicht mehr viel zu sehen. Glücklicherweise, wie der Historiker betont: „In einem authentischen Haus würde niemand mehr leben wollen.“ 

In seinen Führungen bemüht sich Büttner, die Lebensrealität vergangener Zeiten anschaulich zu machen. Dabei ist es ihm wichtig, dass sein Publikum nicht nur zuhört, sondern selbst Fragen stellt. „Ich kann nicht garantieren, dass ich sie beantworten kann“, warnt der Nachtwächter vor. „Vieles weiß ich nicht – und vieles weiß auch niemand sonst.“ Umso wichtiger sei die Bereitschaft, Neues zu lernen.

Büttner möchte mit seinen Führungen auch Menschen erreichen, die sich vom Geschichtsunterricht noch nicht haben begeistern lassen. „Wenn die Leute mir zuhören und ein wenig Interesse an Geschichte entwickeln, bin ich schon zufrieden“, sagt er. „Denn eine Gesellschaft ohne historisches Bewusstsein hat keine Zukunft.“

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