ÜberLeben Erzählen – Warum wir erinnern

Eine Ausstellung im Konstanzer Bürgersaal erinnert an das Massaker von Sant’Anna di Stazzema im August 1944.

Eine Ausstellung im Konstanzer Bürgersaal erinnert an das Massaker von Sant’Anna di Stazzema im August 1944.

Vor rund einem Jahr reiste eine Gruppe von Studierenden der Universität Konstanz unter der Leitung von Dr. Maria Lidola (Ethnologie) und Dr. Sarah Seidel (Literaturwissenschaft) im Rahmen eines interdisziplinären Lehrprojekts in das toskanische Bergdorf Sant’Anna di Stazzema. Das Ziel dieser Reise: Die Aufarbeitung eines Verbrechens der Nazis an der dortigen Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs. Die Studierenden haben hierzu Erinnerungen und Erzählungen der Zeitzeug:innen, ihrer Nachkommen sowie juristischer und politischer Akteur:innen in Text, Bild, Ton und Film dokumentiert. Die multimediale Ausstellung ÜberLeben Erzählen. Sant’Anna di Stazzema 1944/2024 thematisiert das am 12. August 1944 von der Schutzstaffel (SS) verübte Massaker, bei dem mindestens 560 Menschen, darunter ca. 130 Kinder, auf brutale Art und Weise ermordet wurden.

Was sich in Sant‘Anna di Stazzema am 12. August 1944 ereignete, ist ein kulturelles Trauma, das seither die Identität des toskanischen Bergdorfes bestimmt. Im Zentrum der Ausstellung stehen deshalb die Perspektiven der Überlebenden und ihrer Angehörigen: Sie erzählten über ihr Leben – und ihr Überleben nach dem Trauma. Sie schaffen Erinnerungen an die Kinder von Sant’Anna di Stazzema, an die ermordeten und an diejenigen, die mit dem Trauma überlebt haben – auch in zweiter und dritter Generation damit leben. Sie gemahnen uns an die essenziellen Werte Freiheit, Demokratie und Frieden. Ihnen ist diese Ausstellung daher gewidmet.

Zum 80. Mal jährt sich in diesen Tagen der 8. Mai 1945 – als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und vom Zweiten Weltkrieg. Erinnern und Gedenken besitzen eine zeitliche Dimension: So befasst sich die Ausstellung ausführlich mit der Bedeutung und Wirkmächtigkeit von Zeit. Nicht nur die Erzählungen der Überlebenden, sondern gerade auch Gedenkorte bezeugen das Geschehene fortwährend. Solche Orte des Gedenkens sollen Aufklärung leisten und auch heute Teilhabe an der Erinnerungskultur ermöglichen. Sie bewahren die Vergangenheit und ermahnen uns für die Zukunft: „Ohne Erinnerung riskiert man die Zukunft“, formulierte der Zeitzeuge Enio Mancini seine Maxime in einem gemeinsamen Gespräch mit uns Studierenden.

Sarkophag mit Gedenktafel. Bild: Maria Lidola.

In der Begegnung mit der symbolischen Strahlkraft von Sant’Anna di Stazzema wird die Erfahrung des Leids und der Trauer der Überlebenden greifbar. Ebendiesen Zugang soll die multimediale Ausstellung ermöglichen. Orte, Landschaft und damit verknüpfte Erinnerungen, aber auch Rituale, Kunst und die Frage nach Gerechtigkeit vermitteln ein Bild davon, wie die Überlebenden selbst gedenken. Die Ausstellung ÜberLeben Erzählen soll hierzu einen Beitrag leisten und das Vermächtnis Sant’Anna di Stazzemas würdigen.

„Ein Ort – so wird hier deutlich – hält Erinnerungen nur dann fest, wenn Menschen auch Sorge dafür tragen“, konstatiert die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Orte der Erinnerung stellen einen wesentlichen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses von Sant’Anna di Stazzema dar. Interviews mit Zeitzeug:innen, Videoaufnahmen der Landschaft und Bilder der Gedenkstätten verschaffen ein Zugang zu eigentlich Unbegreifbarem und Nichtvermittelbarem. Diese Begegnungen mit Orten der Erinnerung bringen auch Unerzählbares zur Sprache. Die Zeitzeug:innen lassen die Besucher:innen der Ausstellung an ihren Lebensgeschichten teilhaben und laden sie damit ein, ihre Erinnerungen zu teilen. Die Gedächtnisorte von Sant’Anna di Stazzema wurden zu Räumen des Dialogs über die geteilte Geschichte zwischen Italien und Deutschland sowie über aktuelle Entwicklungen innerhalb Europas. In den Gesprächen zwischen uns Studierenden und den Überlebenden über geteilte Hoffnungen und Sorgen, insbesondere für unsere Zukunft, war immer wieder die Relevanz von Orten des Gedenkens präsent. Die Bedeutung dieser Erinnerungen für die Zukunft unserer demokratischen Gesellschaft ist angesichts der immer kleiner werdenden Zahl von Überlebenden offenkundig. Orte des Gedenkens dienen dazu, uns weiterhin an vergangene Lebensgeschichten zu erinnern, und geben uns Werte für unsere Zukunft an die Hand.

Die Ausstellung im Stuttgarter Stadtpalais. Bild: Maria Lidola.

Die Ausstellung ist vom 14. bis 30. Mai 2025 im Bürgersaal Konstanz täglich von 10:00 bis 18:00 Uhr für Besucher:innen geöffnet. Zum Programm.

Die feierliche Eröffnung findet am Abend des 14. Mai 2025 um 18:30 Uhr in der Lutherkirche Konstanz statt. Anschließend wird ein Rundgang durch die Ausstellung im Bürgersaal erfolgen.

Related Posts
Lesen

Konstanz im Kneipentest – auf Entdeckungsreise durch die verborgenen Bars der Stadt

Die Stiftung Kneipentest verschreibt sich jeden Monat dem Wohl aller Studierenden in Konstanz. Die Tester:innen besuchen nicht nur allseits bekannte, sondern vor allem die Bars, die bei den meisten Studierenden bisher noch nicht so viel Gehör bekommen haben. Wir durften ihnen einen Abend lang über die Schulter schauen und die wichtigen Fragen des Lebens klären: Wie hell darf ein Helles sein? Und wann ist eine Weinschorle zu warm?
Simon Pschorr
Lesen

Exklusiv im Interview: Simon Pschorr für Neuwahlen des Bundestages

Könnten wir die Zeit zurückdrehen, und das Portrait über Simon Pschorr (wir berichteten) an der Stelle weiterführen, an der es aufgehört hat, würden wir uns im September in Konstanz befinden. Ein paar Regentropfen würden vom Himmel fallen und außerdem wäre es selbst für einen Sonntag außergewöhnlich still in der Stadt. Es wäre 18 Uhr am Abend und halb Deutschland würde in den Fernseher starren: die ersten Hochrechnungen für die Bundestagswahlen werden ausgestrahlt.
Lesen

Meluva e.V. und das Konstanzer Bürgerbudget

Wäre es nicht cool, wenn Bürger:innen einer Stadt über einen kleinen Teil des kommunalen Haushalts selbst entscheiden dürften? In Konstanz ist das tatsächlich der Fall und zwar im Rahmen des sogenannten Bürgerbudgets. Was hat es damit auf sich? Und wie funktioniert es genau?