Zimmer mit Bett

Ein Zimmer für sich allein: Drei Jahre, vier Länder, sechs Wohnungen

„Ein Stuhl, ein Tisch, eine Lampe.“ So beginnt der erste Satz des zweiten Kapitels im Roman ‚Der Report der Magd‘ von Margaret Atwood, das ich letztes Wochenende angefangen habe zu lesen. Ich blicke mich im Zimmer um, in dem ich gerade lebe: eine kleine, schwarze Couch, ein hellblau gestrichener Schreibtisch, Ikea-Schrank mit wackliger Kleiderstange. Ich liege mit dem Laptop auf meinem Bauch auf einem schmalen 90 x 200 cm Bett. Ein Zimmer für mich allein. Mehr brauchte ich nicht während meines Praxissemesters, dachte ich. Aber nichts hier in diesem Raum, außer meinen mitgebrachten Büchern und Klamotten, gehört mir.

Seit meinem Master an der Universität Konstanz habe ich in diversen Wohnungen und Ländern gewohnt. Da waren die 16 Quadratmeter in der Jägerkaserne, drei vollkommen verrückte und liebenswerte Mitbewohner_innen und ein bunt angemalter Wäschekorb, der mich jeden Morgen begrüßte, wenn ich mein Schlaf-Shirt in ihn hineinstopfte. Sechs Monate später zog ich nach Wollmatingen. Alle Möbel in diesem Zimmer waren weiß. Kaum hatte ich meine Kleidung ausgepackt, stopfte ich einen Teil davon wieder in einen Rucksack und flog für ein Auslandssemester nach Kanada.

Dort lebte ich in einem kleinen Haus mit drei Mitbewohnerinnen: sie unterm Dach, ich im Erdgeschoss. Das Zimmer war riesig; die von der Universität gestellten Möbel füllten nicht einmal ansatzweise den gesamten Raum. Ein versiegelter Kamin ließ erahnen, dass dies wohl ursprünglich ein Wohn- oder Esszimmer gewesen sein muss.

Ich hatte jedoch weder die Zeit noch das Geld, die vier Wände mit meinem Selbst zu füllen, pendelte stattdessen zwischen Bibliothek und CampusCafé hin und her.

Lediglich meine mitgebrachten Fotos klebte ich mit Tesafilm über den inaktiven Kamin: meine beste Freundin, Picknicken am Seerhein mit der Konstanzer Gang, ich auf den Schultern meines Papas als dieser mich noch problemlos hochheben kann, meine Familie mit mir auf meinem Abiball.

Die einzigen persönlichen Gegenstände im Zimmer: die mitgebrachten Fotos

Im darauffolgenden Jahr zog ich mit kurzem Zwischenstopp in Kreuzlingen nach Tel Aviv. Dort wohnte ich nur drei Minuten vom Strand entfernt in einem hübschen und für israelische Verhältnisse preislich erschwinglichen Apartment. Auch hier waren die Möbel, Wände und Schränke weiß. Immerzu fragte ich mich, wie ich wohl meine Wände streichen würde, wenn ich mein eigenes Zimmer hätte.

Auch ein Apartment in Tel Aviv in der Nähe zum Strand gehört zu meinen Stationen

2017 ist das Jahr, in dem meine Reise beginnt: seitdem bin ich immer unterwegs mit einem Koffer oder einem vollbepackten Auto, wohne nirgendwo länger als ein halbes Jahr. In meiner Bachelorzeit verlief das ganz anders: Ein Zimmer, eine Mitbewohnerin, Bad, Küche, Flur. Wir erschufen unser eigenes Reich: über die Jahre wurde die Farbe meiner Holzmöbel dunkler und das Kunstparkett hatte aufgrund kleiner Unachtsamkeiten ein paar Schrammen abbekommen. Ich liebte diese Wohnung, unser altmodisches Gewürzregal von meiner Oma in unserer Küche und das Rattern der Nähmaschine meiner Mitbewohnerin im Nebenzimmer. Der Tag, an dem ich ausziehen musste, war schrecklich. Schlüsselabgabe, Möbel eingepackt, Rotz und Wasser im Auto meiner Eltern geheult. In keinem Raum sollte ich mich seitdem wieder derart wohlfühlen.

In der Zwischenzeit sind meine Eltern aus dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ausgezogen. Mein Kinderzimmer ist verschwunden, meine Möbel von damals eingelagert, verschenkt oder an anderer Stelle im neuen Haus aufgestellt. Ich liebe es, wenn ich bei ihnen in Nordhessen zu Besuch bin, Figürchen, Vasen oder Geschirr in die Hand zu nehmen und mir zu überlegen, wo sie im alten Haus positioniert waren.

Zuhause – für mich ein wandelnder Begriff

Ein Ende dieser vielen Umzüge ist noch nicht in Sicht. Mein Praxissemester ist vorbei, ich ziehe für meine Masterarbeit ein letztes Mal nach Kreuzlingen. Wohin es mich danach verschlägt, weiß ich noch nicht. In den vergangenen Jahren habe ich mich daher mit zwei unangenehmen, aber wahrscheinlich wichtigen Erkenntnissen auseinandergesetzt: Ich musste lernen, die Dinge loszulassen. Räume, Länder, Menschen. Außerdem: nichts ist für die Ewigkeit, schöne Momente können nicht festgehalten, aber erinnert werden. Ich bin aus meinem Kinderzimmer heraus- und über dieses hinausgewachsen.

Die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, sind mehr wert als jeder hübsche Spiegelschrank.

Und eines blieb bei meinen vielen Umzügen doch beständig: Die Fotos an den Wänden meiner Zimmer sind fast immer gleichgeblieben; es kamen lediglich neue Gesichter hinzu, die ich ohne meine Reise nie kennengelernt hätte. Also brauche ich in Zukunft neben einem Zimmer für mich allein wahrscheinlich nur noch mehr Bilderrahmen.

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