Progressive Ideen konkurrieren immer mit dem Status Quo oder gar Kräften, die auf reaktionäre Weise vergangene Verhältnisse anstreben. In diesem Sinne steht beispielsweise „Fridays for Future“ einer Gegnerschaft aus PS-verliebten „Fridays for Hubraum“-Anhänger_innen, Klimaleugner_innen und Industrien gegenüber, die von der Ausbeutung der Umwelt profitiert. Gleichermaßen zieht die Digitalisierung immer mehr Angebote zum digitalen Entschleunigen nach sich, fortschreitende Urbanisierung schafft eine Romantisierung des ländlichen Raumes inklusive „Overtourism“. In diesem Zuge verbündet sich eine Allianz aus Akteur_innen, die eine Rückkehr zum Nationalstaat propagiert, was die fortlaufende Pandemie erneut verdeutlicht.
Nicht selten verhält sich Geschichte wie ein diskontinuierlicher Fluss, der sich aus Fortschritt und Rückfall speist.
Einer wahrlich wirklichkeitsverdrängenden und dabei auf ungeheuerliche Art entwicklungsbehindernden Ansammlung von Ideen kommt der Maskulinismus gleich. Das selbsternannte Gegenstück zum Feminismus bedient die These von der Geschlechterungerechtigkeit zu Ungunsten des männlichen Parts. Das feministische Argument um 180 Grad gewendet und umgedeutet, interpretiert der Maskulinismus die gesellschaftlichen Verhältnisse als durchzogen von systematischen Unterdrückungen der Männlichkeit und des männlichen Geschlechts. In seiner extremsten, chauvinistisch dominierten Form propagiert er eine männliche Überlegenheit – wohlgemerkt naturgegeben, aus der zwingend die männliche Dominanz in allen gesellschaftlichen Bereichen des Lebens folgen müsse.
Seine kruden Thesen präsentiert der Maskulinismus vornehmlich in einschlägigen Foren und in den vielfältigen Kommentarspalten der Netzwelt. Dort fällt vor allem sein frauenfeindliches Auftreten unter pseudo-antifeministischen Deckmantel auf. Maskulinistisch eingestellte Männer ergötzen sich an Plattitüden wie „Weltfrauentag, das hieß früher Küchenputz“ und bestätigen sich zugleich gegenseitig in ihrem Weltbild. In diesen zentralen Ansichten, der Dominanzfrage und dem Vertreten frauenfeindlicher Positionen, unterscheidet sich der antifeministische Maskulinsmus von seinem feministischen Pendant, das in seiner geläufigsten Form lediglich Gleichrangigkeit fordert, kein Matriarchat weiblicher Dominanz. Äquivalente zur markanten Frauenfeindlichkeit des Maskulinismus, also radikale Narrative, die Männer grundsätzlich als den kollektiven Feind ansehen, spielen nur in gewissen feministischen Strömungen eine Rolle.
In einer Realität, die von struktureller Ungleichheit der Geschlechter geprägt ist, erscheint es irrsinnig, dass sich ein solcher Maskulinismus formiert. Wahrhaftig verschleiert die Verkennung nachteiliger Gegebenheiten für Frauen im Maskulinismus jedoch ein tieferliegendes Problem: den fehlenden, geschlechterübergreifenden Konsens zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit.
Der aggressive, laut diffamierende Maskulinismus macht sich breit in einem Vakuum, das die ungeklärte und nicht wahrnehmbare Frage der männlichen Haltung zur Frauenbewegung betrifft. Er schafft einen Ansatzpunkt für eine Männlichkeit, die einer grundlegenden Erosion von Rollenbildern gegenübersteht. Infolge gewaltiger Paradigmenwechsel ist er auch Ausdruck einer ernsthaften männlichen Identitätskrise. Doch zufriedenstellende, ebenbürtige Verhältnisse sind nur mit einem Maskulinismus möglich, der sich nicht auf ein Patriarchat beruft, das noch nicht überwunden ist. Vertreter des männlichen Geschlechts müssen die Gesellschaft als gemeinsamen Pool von Interessen und Bedürfnissen begreifen, die es gleichermaßen zu berücksichtigen gilt.
Ein vorwärtsgewandter, potenzieller Maskulinismus würde die allgemeine Gleichstellung der Geschlechter als Ziel begreifen, ohne originär männliche Anliegen, die es durchaus gibt, aufzugeben. In dieser Vision wären Maskulinisten die männlichen Feministen, ohne ihre geschlechtsspezifische Identität zu vergraben. Auch Männer gewinnen von der Überwindung von Geschlechterstereotypen, indem quälende, althergebrachte Vorstellungen von toxischer Männlichkeit überdacht werden können.
Löst der Maskulinismus jedoch seinen scharfen Gegensatz zum Feminismus nicht zum kooperativen Vorteil aller auf, gleicht er in seiner jetzigen Form am ehesten einer lästigen, aggressiven Stubenfliege. Diese donnert fortlaufend gegen die Scheibe, findet nicht den Weg ins Freie und stört mit ihrer Aktivität die Konzentration auf das wahre und wichtige Anliegen der allgemeinen Gleichstellung der Geschlechter.