Positive Männlichkeit – Kommentar

„Wann ist ein Mann ein Mann?“, fragt bereits Herbert Grönemeyer in seinem Song „Männer“. In diesem Doppelkommentar wollen wir noch einen Schritt weiter gehen und fragen: Was ist denn eigentlich ‚positive Männlichkeit‘? Dazu untersuchen wir, wie auf individueller und gesellschaftlicher Ebene ein Weg fort von der toxischen Männlichkeit gelingen kann. Ein Text von Jacob Kern und Paul Stephan.

Paul Stephan:

Ein schwieriger Begriff

Dominant, kraftstrotzend, tonangebend – das sind Eigenschaften, die viele Menschen mit dem Begriff der „Männlichkeit“ in Verbindung setzen. Deutlich wird in jedem Fall, dass diese drei Wörter als Charakterisierung für das Männlich-Sein weder ausreichen noch wünschenswert sind. Berechtigterweise kann man sich nun die Frage stellen, ob es überhaupt eine Charakterisierung der Männlichkeit braucht oder ob man nicht dadurch bereits einen neuen Stereotyp schafft. Diese Gefahr scheint gegeben zu sein, denn viele neigen dazu, sich eher als Mann, statt als Mensch zu identifizieren. Bevor es also gelingen kann, einen Artikel über die „positive Menschlichkeit“ zu schreiben, muss erst der Weg von der toxischen zu einer nicht-toxischen Männlichkeit gegangen werden. Als Kompromiss könnte man festhalten, dass nicht die Männlichkeit an sich ein Problem ist, sondern ihr unbewegliches, rückständiges Selbstverständnis.

Das Fehlen von Vorbildern

Wo entsteht diese primitive, toxische Männlichkeit? Oder anders gefragt: Würde sie auch entstehen, wenn Menschen von Kindheit an mit einer positiven Männlichkeit konfrontiert werden würden? 2019 waren etwa 91 Prozent aller Väter von Kindern unter drei Jahren voll berufstätig (Mütter etwa 44 Prozent)[1]. 2017 waren etwa fünf Prozent aller Erzieher:innen männlich[2]. Bei geschiedenen Familien leben 91 Prozent der Kinder bei ihrer Mutter.[3] Das zeigt vor allem ein ganz schwerwiegendes, gesellschaftliches Problem: Viele Kinder wachsen ohne nennenswerte Präsenz eines männlichen Vorbilds auf. Der Grund, dass so viele Kinder ihren Vater nie weinen gesehen haben (und so zu der fälschlichen Annahme kommen, dass Männer nicht weinen), liegt daran, dass sie ihn so selten sehen. So liegt es auf der Hand, eine mögliche Ursache von toxischer Männlichkeit zu identifizieren: Es ist das Fehlen von Vorbildern, die eine positive Männlichkeit vorleben könnten. Und da sich Menschen nach Vorbildern sehnen, fällt der Blick allzu häufig in die sozialen Medien oder die Welt der Berühmtheiten. Da diese Welt von Putins und Trumps geprägt ist, lässt sich unschwer erahnen, was dabei herauskommen kann.

Ein neues Rollenverständnis

Der Weg zur positiven Männlichkeit wird immer einfacher werden, sobald er einmal weite Teile der Gesellschaft erreicht hat. Denn sobald auch Erzieher und Hausmann sich neben Geschäftsmann und Kraftfahrzeugmechatroniker[4] als männlicher Beruf[5] durchgesetzt hat, wird die Erziehung der Zukunft auch entsprechend reichhaltiger werden und mehr Menschen werden eine positive Form der Männlichkeit leben können. Um diesen Weg aber gehen zu können, muss es maßgebliche Veränderungen geben, ganz besonders im Rollenverständnis. Es ist viel in Bewegung, und dennoch ist es ein weiter Weg. Als kleine Übung kann man sich selbst die Frage stellen: Was ist denn nun eigentlich besonders „männlich“? Welche Berufe, welche Eigenschaften? Es lohnt sich, hier mal eine ganz konkrete Liste mit Begriffen aufzuschreiben und diese dann kontinuierlich zu erweitern. Denn je kürzer diese Liste ausfällt, desto eingeschränkter wird der Begriff der Männlichkeit gedacht. Umgekehrt: Je länger die Liste ausfällt, desto größer sind die Chancen, dass Männlichkeit am Ende etwas zutiefst Menschliches sein wird. Denn das Ziel sollte sein, am Ende jegliche Grenzen der Geschlechtlichkeit zu überwinden, und von Mann und Frau zu einem Mensch zu werden.

Ein gemeinsamer Weg

Wie bei allen gesellschaftlichen Problemen gilt: Individuelle Verhaltensänderung ist gut, nachhaltig sind aber nur kollektive Änderungen. Und so ist es auch hier vor allem Aufgabe der Politik, der Medien und des gesellschaftlichen Diskurses, das Bewusstsein für die Rolle des Mannes in einer sich verändernden Welt zu stärken. Gleichsam zur Emanzipation der Frau braucht es auch eine Emanzipation des Mannes, der ihn aus den Fesseln der jetzigen Definition der Männlichkeit befreit.[6] Dominant, kraftstrotzend, tonangebend? Es wird immer Menschen geben, auf die diese Eigenschaften zutreffen. Aber seien wir doch mal ehrlich: Besonders männlich sind sie eigentlich nicht. Lasst es unsere Aufgabe sein, diesen Stereotypen zu widerlegen und Männlichkeit in ihrer positivsten Form zu etablieren. Denn nur wenn wir diesen gemeinsamen Weg gehen, werden wir uns von der toxischen Männlichkeit befreien können. Und davon profitieren am Ende alle Menschen.


[1]    https://de.statista.com/infografik/22915/anteil-der-erwerbstaetigen-muetter-und-vaeter-mit-kindern-unter-3-jahren-in-deutschland/#:~:text=Gleichzeitig%20ist%20die%20Erwerbst%C3%A4tigenquote%20von,h%C3%B6her%20als%20die%20der%20M%C3%BCtter.

[2] https://de.statista.com/infografik/14678/maennliche-paedagogische-fachkraefte-in-kitas/#:~:text=Erziehung&text=Im%20Jahr%202017%20waren%205,kleine%20Anfrage%20der%20Gr%C3%BCnen%20bezieht.

[3]    https://wir-sind-alleinerziehend.de/alleinerziehende-in-deutschland/#:~:text=Alleinerziehende%20in%20Deutschland%3A%20Wissenswertes,%25)%20und%20157.000%20M%C3%A4nner%20alleinerziehend.

[4]    Kraftfahrzeugmechatroniker ist tatsächlich der unter Männern am häufigsten gewählte Ausbildungsberuf: https://www.hannoversche.de/wissenswert/5-beliebtesten-ausbildungsberufe-der-deutschen

[5]    Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Wenn hier von männlichen Berufen die Rede ist, soll das nicht heißen, dass diese Berufe nur für Männer gedacht sind, sondern dass diese Berufe so betrachtet werden, dass ein männlich gelesener Mensch diese typischerweise ausübt.

[6]    Leider ist der Begriff des „Maskulinismus“ schon vergeben und erscheint in diesem Kontext unpassend:


Jacob Kern:

Ist das noch männlich? Ein weiterer Kommentar zu positiver Männlichkeit

Männer sind stark, ihr Lieblingsgetränk ist Bier, sie gucken gern Sport und Jungen haben gefälligst Fußball und mit Autos zu spielen. Dass diese Auffassung von Männlichkeit überholt ist, sollte eigentlich längst klar sein. In unserer Gesellschaft, die zwar immer mehr auf Gleichberechtigung der Geschlechter bedacht ist, scheint das aber noch nicht vollständig angekommen zu sein. Ich sehe noch viel zu oft ein verzogenes Bild von Männlichkeit, sei es bei manchen meiner Freunde, oder in meiner Familie. Auch wenn sich das in meiner Familie durch nur halb-ironische Äußerungen bemerkbar macht, glaube ich, dass auch dies ein Teil der Kultur des verzogenen Bildes von Männlichkeit ist. Ein „Ach komm, hab dich nicht so, du bist doch ein Mann…“ oder „Wie, du lackierst dir die Nägel?“ höre ich, wenn ich mal wieder in der Heimat bin, schon gelegentlich. Denn solange junge Menschen schon in ihrer Erziehung vorgelebt bekommen, wie sich ein Mann zu verhalten hat, welche Eigenschaften passend sind und welche nicht, sind wir als Gesellschaft weit davon entfernt, männliche Stereotype zu dekonstruieren.

Wir müssen es also irgendwie schaffen, diese längst überholte Auffassung von Männlichkeit hinter uns zu lassen. Das Stichwort hierbei lautet: Positive Männlichkeit. Bei positiver Männlichkeit geht es darum, Männern Eigenschaften, die vermeintlich weiblich konnotiert sind, wie Emotionalität, körperliche Schwäche oder Zärtlichkeit nicht abzusprechen und sie dazu zu ermutigen, diese auch bei anderen Männern zuzulassen. Hierbei kann auch der Feminismus helfen. Wenn es der Feminismus geschafft hat, Frauen die Aneignung männlich konnotierter Attribute zuzugestehen, dann kann er es auch schaffen, Männern ein neues Feld der Gefühle zu geben, dem sie sich öffnen können. Auch Männer müssen weinen dürfen, sich die Nägel lackieren und Sensibilität zeigen können, ohne sofort als nicht mehr männlich abgetan zu werden.

Meine Idealvorstellung wäre natürlich eine Welt gänzlich ohne geschlechtsspezifische Stereotype, in der Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht mehr mit einem Geschlecht assoziiert werden. Hierfür müssen wir zunächst ein Bewusstsein für die Problematik dieser Zuschreibungen schaffen und uns dann erst einmal selbst hinterfragen. Wie stark beeinflussen Vorurteile meine Auffassung von Männlichkeit? Ist diese Auffassung noch zeitgemäß oder fördert sie sogar diese veralteten Denkmuster? Vielleicht merken wir dann auch, dass wir selbst nicht so aufgeklärt und frei von Vorurteilen sind, wie wir es manchmal zu sein glauben. Es ist also die Aufgabe eines jeden Einzelnen mit Stereotypen zu brechen und auch andere darauf aufmerksam zu machen, damit wir als Gesellschaft einen weiteren Schritt in Richtung der Gleichstellung der Geschlechter kommen.

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