Riot, don’t diet!

Nach Jahrhunderten der Geringschätzung, vor allem von Seiten religiöser Institutionen, wurde der Körper in Mitteleuropa ab Mitte des 20. Jahrhunderts rehabilitiert und bekam durch Fernsehen, Facebook und Instagram zunehmend eine Dauerwerbeplattform. Große, schlanke, schöne Körper sind so richtig angesagt. Gerne wird dokumentiert, wie viel Arbeit darin steckt.

Pamela Reif macht es uns vor: Die sicherste Übung für ein knackiges Gesäß ist die Kniebeuge, in Fachkreisen auch ‚Squat Jumps‘ genannt. Grundsätzlich ist es natürlich gut, gesund zu leben und Sport zu treiben.

Die Frage ist jedoch, ab wann die Lust an Körperbewegungen zum Körperzwang wird.

Derweil sind die Fitnessstudios voll und beim Einkaufen vor den Kosmetikregalen hat man die Auswahl zwischen 350 verschiedenen Wimpernverlängerungsmöglichkeiten. Doch wer bestimmt überhaupt, was als schöner, gesunder Körper anzusehen ist?

Eine inspirierende Feministin hat sich dieser und weiteren Fragen gestellt. Die Autorin, Bloggerin und Literaturwissenschaftlerin Laurie Penny, die sich in ihren essayistischen Werken dialektisch mit den Themen Kapitalismus, Feminismus und Sexismus befasst, fasst es so zusammen:

Unsere Körper werden in den Industrienationen als Ware gehandelt. Nur aus diesem Grund boomt der Markt.

Pennys Erstlingswerk trägt den prätentiös anmutenden Titel Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus (2012). Das nur 105 Seiten starke Manifest ist, wie der Titel bereits vermuten lässt, unangenehm zu lesen; und das nicht aufgrund des Sprachstils. Einfach strukturierte Sätze reihen sich lückenlos aneinander, sodass jede_r, der oder die es zumindest schon einmal bis zum Ende eines Online-Artikels geschafft hat, das Buch lesen und verstehen kann. Es sind der knallharte Inhalt und der parataktische Satzbau, die nicht umsonst immer wieder die Assoziation eines Metzgers hervorrufen. Exklamativsätze wie

„Wir werden ausgebeutet!“

zerhauen das eigentlich sensible Thema der persönlichen Körperwahrnehmung mit gezielten Hieben.

Das Buch ist der Versuch, eine Teilantwort auf die höchst komplizierte Frage zu geben, warum so viele Mädchen und Jungen in ihrer Jugend ihren Körper ablehnen. Warum es vor allem so viele Frauen gibt, die ihren Körper missachten und mit ihm zu kämpfen haben. Es ist ein wütendes Buch und Penny ist eine wütende Autorin.

Laurie Pennys These lautet: Wir werden ausgenommen (beziehungsweise geradezu ausgeschlachtet, um der Assoziation des Metzgers treu bleiben zu wollen); und zwar auf physischer und psychischer Ebene. (Frauen-)Körper sind strukturell einer Entmachtung und Fremdkontrolle im Spätkapitalismus ausgesetzt, damit Profit gemacht wird:

Für das anvisierte perfekte Äußere werden als Nebeneffekt allerdings nicht nur unsere Geldbeutel geleert, sondern auch unsere Persönlichkeiten ausgewrungen.

Laut Penny macht uns das gesellschaftlich krank: Unsere moderne Ökonomie, die auf einem kapitalistischen Wirtschaftssystem aufbaut, versucht, neoliberale Produktionsverhältnisse zu erhalten, die auf einem System der Ausbeutung beruhen. Dessen Leidtragende sind am Ende immer die Verbraucher_innen. Dabei benötigt dieses System vor allem Frauen als Motor: Sie verrichten grundsätzlich die meiste Care-Arbeit, also unbezahlte, aber gesellschaftlich notwendige Hausarbeit wie Kinder- und Altenpflege, und sind nach wie vor mehr als Männer an geschlechtsspezifische (und meist schlechter bezahlte) Arbeit gebunden. Das verdiente Geld wird dann in Produkte gesteckt, um dem Ideal eines Pamela Reif-Körpers nahe zu kommen. Ein Teufelskreis entsteht. Aber was macht dieser Teufelskreis im schlimmsten Fall mit unseren Körpern?

Vereinfacht und verkürzt zusammengefasst:

Damit weiter ge- und verkauft werden kann, muss ein Markt geschaffen werden, der Bedürfnisse deckt, die davor noch nicht existierten.

Bis etwa zum Ende des zweiten Weltkrieges lebte die mitteleuropäische Bevölkerung in einer sogenannten Bedürfnisdeckungsgesellschaft, die uns mit dem Nötigsten für unser Überleben ausstattete, vornehmlich etwas zu Essen auf dem Tisch und bestmöglich einem Dach über dem Kopf. Inzwischen wird dagegen eine Bedürfniserweckungsgesellschaft propagiert und umgesetzt.

Auf einmal fällt uns auf, dass eigentlich 300 verschiedene Chipssorten im Regal sehr wichtig für uns sind!

Penny erläutert, dass dabei auch der menschliche Körper zunehmend als sexuelles und soziales Kapital fungiert. Das Individuum wird von seinem eigenen Körper entfremdet, da wir den Körper, der uns gegeben ist, nicht mehr als unseren eigenen wahrnehmen beziehungsweise als mangelhaft wahrnehmen. Er ist dauerhaft ‚verbesserungsbedürftig‘; die Eigenidentität geht somit verloren. Das Individuum ist daraufhin genötigt, die (angeblich) elementaren Bestandteile seines Körpers käuflich zu erwerben. Was wird benötigt? Grundsätzlich alles, was mit Mittelchen und Messerchen veränderbar ist: Der richtige Geruch, die richtige Haarfarbe, die richtige Figur.

Die Schönheitsindustrie unserer Gesellschaft ist mächtig – und gefährlich. Gefährlich insofern, als dass aus einer bloßen Ablehnung der eigenen Körperlichkeit auch eine Krankheit erwachsen kann. Penny spricht dabei aus eigener Erfahrung. In jungen Jahren hungerte sie sich über Jahre hinweg bis auf die Intensivstation ins Krankenhaus. Auch die deutsche Autorin Margarete Stokowski beschreibt in ihrem Buch Untenrum frei, wie sie als Teenagerin alles Mögliche unternahm, um einem (von der Industrie geplant unerreichbaren) Ideal zu entsprechen und dann später ebenfalls hungerte.

Das allgemeine Vorurteil über Essstörungen lautet, dass es ein Promi- oder Luxusthema sei. Jedenfalls etwas, was nur ‚anderen‘ Menschen passiere.

Die Lektüre von Fleischmarkt macht jedoch deutlich, dass Essstörungen nicht nur als private Angelegenheiten individueller Schicksale zu betrachten, sondern als gesellschaftliches Problem anzuerkennen sind.

Denn die Frage nach der Ursache von Essstörungen ist auf struktureller Ebene eine Frage von Macht und Geld. Um sie zu beantworten, muss man ein grundsätzliches Verständnis der politischen und wirtschaftlichen Gesamtsituation schaffen. Denn zu verstehen, dass der eigene Körper wirtschaftlich gerne verbraten wird, entlastet. Dass der Selbst-Anspruch und das persönliche Schönheitsideal über Jahre hinweg im eigenen Bewusstsein platziert wurden, muss einem erst einmal klar werden. Darüber hinaus wäre es natürlich anmaßend zu behaupten, dass allein ein gesellschaftlich propagierter Schönheitskult als Initialzündung für eine Essstörung gelten kann. Vor allem persönliche Gründe, private Umstände und Familienschicksale stecken hinter einer solchen Krankheit.

Nichtsdestotrotz sollten Sendungen wie Germany’s next Topmodel, Kino, Fernseh-, YouTube- und Instagram-Stars, sowie gewisse Werbeinhalte, die absolut unrealistische Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit zur Schau stellen, zu denken geben.

Es ist ein immanenter Tatbestand unserer derzeitigen Gesellschaft, dass der unwirkliche Körper angebetet wird.

Diesem nicht zu genügen und ihm niemals gerecht werden zu können, äußert sich laut Penny in einem kulturellen Trauma, das sich gegen die Mitglieder einer Gesellschaft selbst richtet. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung berichtet, dass 5% der Bevölkerung in Deutschland von einer Essstörung betroffen sind (der Kampf gegen sich selbst unter dem Deckmantel einer Diät ist bei diesen Statistiken übrigens nicht miteinberechnet.)

Erschreckend dabei ist, dass mindestens ein Fünftel aller Jugendlichen im Alter zwischen elf und siebzehn Jahren Symptome von Essstörungen aufweisen, wobei Mädchen und junge Frauen häufiger betroffen sind als Männer.

Es wird gehungert, weil man verschwinden möchte, und um den Anforderungen an das leistungsorientierte und perfekte Ich endlich entfliehen zu können. Gehungert wird, um Kontrolle über eine unkontrollierbare Welt zu erhalten. Pennys Diagnose lautet:

Die physische und psychologische Selbstzerstörung ist das Finden von Autonomie in einer heteronomen Gesellschaft.

Medien und Politik ignorieren nach wie vor dieses Problem. Ein zusätzliches, schönes Beispiel für die Trivialisierung dieses Themas ist der im Jahr 2017 in die Kinos gekommene Film Embrace – Du bist schön. Er besticht höchstens durch einen feschen Trailer der berühmten Sponsorin Nora Tschirner, vielen Gute-Laune-ich-springe-in-die-Luft-Aufnahmen, B-Z-Promis und rühriger Hintergrundmusik. Ein Film, den man sich anschauen kann, der aber keine Strukturen aufzeigt. Es wird vor allem sehr viel geweint. Als Lösung dient der Leitspruch:

„Learn to love yourself!“

Wenn es denn so einfach wäre. Dagegen findet niemand die Zahl von über 5.500.000 Abonnent_innen auf YouTube und erschreckenden 6,4 Millionen Followern auf Instagram der ‚Webvideoproduzentin‘ Bianca Heinicke (‚BibisBeautyPalace‘) beunruhigend, wobei einem beim Klick auf ein einziges ihrer Videos eigentlich übel werden sollte. Als Werbeikone ist sie in Deutschland inzwischen mächtiger als in den 2000er-Jahren Britney Spears und – pardon – scheißt unserer Jugend von heute mächtig ins Gehirn.

Die Sorge um die Gesundheit und die Zufriedenheit einer Gesellschaft spielt bei allem Trubel dabei am wenigsten eine Rolle. Noch einmal: Essstörungen sind – nicht nur, aber auch – ein politisches und kulturelles Problem. Dressiert von der Propaganda der Mode-, Medien-, Musik- und Pornoindustrie haben vor allem Frauen gelernt, ihre Körper, die angeblich zu viel Raum einnehmen, zu verachten. Facebook, Instagram und Snapchat helfen bei der persönlichen Selbstinszenierung. Anerkennung, Applaus und Likes erhält Frau von heute für: den richtigen Frozen Yogurt, das stylischste Outfit (gerne geschossen auf Bergabhängen/Stränden/vor Riesenrädern) und natürlich für Do-it-yourself-Workouts in knappen Sportoutfits. Die Realität, das alternde und niemals ‚perfekte‘ Fleisch, ist eine Bedrohung. Stattdessen wird Scham und Disziplin verlangt. Somit werden Tausende von Frauen (und auch immer mehr Männer, denn auch ihre Körper wurden in jüngster Zeit als ertragreicher Markt entdeckt) gehörig und dumm gemacht und bleiben somit eine starke Kaufkraft. So richtig glücklich ist trotzdem niemand damit, egal wie viel geshoppt, gestrampelt und geliftet wird.

Ein Schwenk aus dem Leben, denn persönliche Belange äußern sich gerne auch in politischer Meinungsbildung: Nur ungern denke ich an die Zeit zurück, in der ich in mein Tagebuch Notizen wie

„Heute keine Kohlenhydrate!“

oder

„Das wünsche ich mir für das neue Jahr: 5 Kilo abnehmen, reine Haut.“

gekritzelt habe. In der Pubertät ist vielleicht jede_r irgendwie gehemmt und unsicher. Bei mir war es in Bezug auf meinen Körper eine elende Zeit, bestimmt von einem Gefühl der immerwährenden Unvollkommenheit, Weinen beim Kauf des Badeanzugs, Rennen ins Fitnessstudio und Herzklopfen beim Schritt auf die Waage. Vieles änderte sich erst, als ich den Wahn um das Schlanksein auf seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ursprünge zurückführen konnte. Verstehen hilft gegen Fremdbestimmung. Wir sind keine Opfer. Wichtig ist auch: Das Schweigen brechen und die eigene Scham überwinden. Ich habe so manche Gespräche (meist mit Frauen) geführt, in denen ähnliche Geschichten erzählt wurden. Ich habe Freundinnen mit Essstörungen. Ich höre auf Partys Gespräche über die neue Diät und den eigenen fetten Hintern. Es sind zu viele Gespräche.

Penny fordert:

Wir müssen uns trauen, Hunger zu haben – Hunger auf Veränderung, Unordnung, Liebe, Leben und Abenteuer. Wir müssen uns trauen, Raum einzunehmen. Wir müssen uns groß machen. Und die Gesellschaft hat diesen Hunger anzuerkennen.

Sie selbst kann nicht wachsen, wenn die Hälfte der Bevölkerung physisch und psychisch dabei schrumpft. Das Fazit nach der Lektüre von Fleischmarkt?: Das neoliberale Wirtschaftssystem lehnt den (weiblichen) Körper ab, um aus ihm Kapital zu schlagen. Ein feministischer Kampf ist somit immer auch ein Kampf gegen den Kapitalismus, wobei dieser sowohl kollektiv als auch individuell geführt werden muss. Denn für eine Gesellschaft, die auf (weibliche) Kaufkraft und unbezahlte Arbeit setzt, gibt es nichts Schlimmeres als eine Weiblichkeit, die sich diesem Diktat verweigert und einfach

„Nein!“

sagt. Denn perfekt sind nur Fotos. Der wirkliche Körper ist es glücklicherweise nicht.

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