Wer zu nah kommt, geht zu weit –  Was tun gegen sexuelle Belästigung und Diskriminierung?

Laut dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Absatz Vier umfasst sexuelle Belästigung jedes einseitige, unerwünschte, sexuell bestimmte Verhalten, bei dem die Würde der belästigten Person verletzt wird. Aber was genau heißt das? Und was wird hier an der Universität Konstanz dagegen getan? Inés Eckerle ist, neben ihrer Position als Beauftragte für Chancengleichheit, auch Ansprechperson für sexuelle Belästigung, sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an der Uni Konstanz, zusammen mit ihrem männlichen Kollegen Werner Palz. Campuls hat sie für ein Interview getroffen.

Campuls: Wie sind Sie dazu gekommen, sich beruflich mit dem Thema sexuelle Belästigung auseinanderzusetzen?

Eckerle: Die Themen Chancengleichheit, Emanzipation und Frauenrechte begleiten mich schon seit meiner Kindheit. Deswegen habe ich mich in meinem Studium der Linguistik hier an der Uni Konstanz sehr viel mit gendergerechter Sprache befasst. Durch mein Wahlamt als Beauftragte für Chancengleichheit kam ich dann auch mit dem Thema sexuelle Belästigung in Berührung. Im Jahr 2015 wurde dann die Anlaufstelle bei Fragen zu sexueller Belästigung, sexualisierte Diskriminierung und Gewalt eingerichtet.

C: Können Sie den Unterschied zwischen den Begriffen erklären?

E: Bei sexuellen Handlungen gegen den Willen eines anderen Menschen geht es nicht um Sexualität (einvernehmlich), sondern um Überlegenheit, Macht und Gewalt. Um diesen Unterschied auszudrücken, verwendet man den Begriff „sexualisierte Gewalt“. Mit sexueller oder sexualisierter Belästigung sind unerwünschte, einseitige Handlungen wie das an den Po fassen, anzügliche Sprüche oder auch „Catcalling“ gemeint. Dazu zählen auch schriftliche und Bildnachrichten (z.B. Dickpics) oder Kommentare auf Social Media. Bei sexualisierter Gewalt geht es um Macht das geht bis hin zu Gewaltausübungen, bei denen als „Waffe“ sexuelle Komponenten verwendet werden. Das kann auch bei zwei Studierenden zutreffen, die von außen betrachtet statusgleich sind, wo sich jedoch einer – meist der Mann – der Frau überlegen fühlt.

C: Was macht die Universität Konstanz konkret gegen sexuelle Belästigung oder sexualisierte Diskriminierung und Gewalt?

E: Viele tun sich schwer damit, sich berechtigt zu fühlen, wenn ihnen übergriffiges Verhalten widerfährt. Da können Informationen der erste Schritt sein. Wir haben dafür eine sehr umfangreiche Webseite gestaltet namens „Sicherheit auf dem Campus“. Der nächste Schritt wäre dann, sich mit jemanden darüber auszutauschen und sich am besten professionelle Beratung oder Hilfe zu suchen. Alle, die in irgendeiner Form Personal- oder Fürsorgeverantwortung für die Studierenden tragen, müssen solche Beschwerden ernst- und entgegennehmen, an die Anlaufstelle weiterverweisen und diese über Vorfälle informieren. Wir sind für alle zuständig, die kurz oder längerfristig hier an der Uni Mitglied sind, arbeiten und/oder studieren.

C: Ist das ein besonderes Konzept der Uni Konstanz oder gibt es für jede Universität bestimmte Vorgaben?

E: Laut dem Landeshochschulgesetz muss es seit 2016 an jeder Uni in Baden-Württemberg eine männliche und eine weibliche Ansprechperson für sexuelle Belästigung geben. Anders als gefordert, haben wir hier einen kleinen Prozentanteil einer Vollanstellung für eine Koordinationsstelle geschaffen. Da ich diesen Jobanteil innehabe, übernehme ich die ganzen damit verbundenen administrativen Aufgaben und Planungen in Absprache mit meiner Vorgesetzten. Das hat nicht jede Universität.

C: Was für Konsequenzen werden gezogen, wenn jemand, der/die sexuell belästigt wurde, zu Ihnen kommt?

E: Zunächst einmal sichern wir absolute Vertraulichkeit zu und dass wir ohne eine Einwilligung nicht eigenständig tätig werden. Nicht einmal bei einem strafrechtlich relevanten Fall, wie einer Vergewaltigung. Nur so können wir garantieren, dass unser Angebot niederschwellig ist und die betroffenen Personen sich wirklich sicher fühlen können. Im Gespräch ist es dann auch unsere Aufgabe, erstmal bei der Orientierung zu helfen. Dabei ist es sehr wichtig, dass die Gefühle der betroffenen Person wahrgenommen und respektiert werden. Der nächste Schritt ist dann Self-Empowerment, um aus der Opfer-Position herauszuhelfen.

C: Und was passiert, wenn die betroffene Person rechtliche Schritte einleiten möchte?

E: Oftmals hilft schon ein Gespräch. Manche kommen mit dem Anliegen: Ich muss das einfach mal jemandem erzählen. Und durch geschicktes Fragen kommen die Personen dann eventuell auch auf eigene Lösungen. Es geht nie darum, dass ich jemandem eine Lösung vorgebe, sondern dass ich sie bei dem Finden eines möglichen Weges unterstütze. Wenn aber jemand mit dem konkreten Wunsch, beispielsweise eine Anzeige zu erstatten, zu uns kommt, dann unterstützen wir gerne bei den weiteren Schritten.

C: Wer ist laut Ihrer Erfahrung von sexueller Belästigung am meisten betroffen?

E: Ich führe eine Statistik darüber, wer zu uns kommt und welchen Status die Personen haben. Hier eine kurze Übersicht:

2019: 12 Frauen und ein Mann
– davon 6 Studierende (die anderen Beschäftigte, Stipendiat:innen oder Doktorand:innen)
– 3 Mal war der Täter männlich und der Status höher (Dozent oder Berater gegenüber einer Studentin)  

2020: 16 Frauen und 2 Männer
– davon 15 Studierende
– 9 Mal war der Täter männlich und der Status höher  

2021: 7 Frauen und ein Mann
– 2 Mal war der Täter männlich und der Status höher

Meistens sind die Opfer von Übergriffen oder Gewalt Frauen. Laut meiner Statistik sind Männer, wenn sie in meine Beratung kommen, fast immer betroffen von Stalking. Bei Stalking unterscheiden wir zwischen dem sogenannten „Promi-Stalking“ und dem „Liebes-/Beziehungs-Stalking“. Letzteres kommt viel häufiger vor. Die Männer, die zu mir kommen, waren in der Regel in einer Beziehung mit einer Frau, die eine Trennung nicht akzeptieren wollte. Das Stalking findet dann per Mails, WhatsApp, Social Media oder sogar an der Uni in persönlicher Form statt. Promi-Stalking, also vom Status niedrigeren Person zu einer Person mit scheinbar höherem Status, gab es auch schon mal. Dabei handelte es sich um eine Studentin, die ihren Dozenten mit Geschenken überhäufte und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.

C: Glauben Sie, dass sich Männer weniger trauen, zu Ihrer Anlaufstelle zu kommen und deswegen sexuelle Belästigung gegenüber Männern weniger wahrgenommen wird?

E: Es sind wesentlich mehr Frauen als Männer von sexualisierten Übergriffen betroffen. Diejenigen, Frauen wie Männer, die zu uns kommen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer sehr groß ist. Warum die Menschen nicht zu uns kommen, kann verschiedene Gründe haben. Es kann daran liegen, dass sie sich nicht trauen, weil es immer noch ein Tabu ist, darüber zu sprechen, oder einfach, weil sie nichts von unserer Anlaufstelle wissen. Auch die Angst vor Restriktionen oder Sanktionen kann eine Rolle spielen, also, dass beispielsweise die Hausarbeit vom betreffenden Dozenten schlechter bewertet wird. Wenn sich eine Studentin oder Promovendin nicht bei uns meldet, hat das ganz oft den Grund, dass sie Konsequenzen fürchtet. Also heißt es dann oft lieber: Zähne zusammenbeißen und durch. Oder es folgt sogar der Abbruch des Studiums oder der Dissertation.

C: Was glauben Sie, könnte man tun, um solche Machtstrukturen an der Uni abzubauen?

E: Mir ist wichtig, dass wir uns nicht nur darauf konzentrieren, die Frauen zu stärken. Es geht auch darum, dass all die Jungen, Männer und Kommilitonen da draußen nicht nur zuschauen. Erst dann, wenn sexistische Witze nicht mitbelacht werden und Männer Solidarität mit den Frauen entwickeln (angenommen wir bleiben jetzt bei diesem binären Bild), dann bewegt sich etwas vorwärts. Es kann sich nur etwas verändern, wenn diejenigen, die die Täter als Verbündete wahrnehmen, das Wort gegen diese Diskriminierungen erheben und Position beziehen. Zudem passieren solche Vorfälle natürlich nicht nur hier auf dem Campus, sondern auch im Wohnheim. Da würde ich mir eine intensivere Zusammenarbeit mit Seezeit wünschen. Wenn Studierende sich an mich wenden und erzählen, dass in ihrer WG etwas vorgefallen ist, kann die Universität nicht direkt eingreifen und beispielsweise das Zimmer kündigen. Da wären bessere Mechanismen wünschenswert. Geschultes Personal, das auf die Anlaufstelle verweisen kann, sowie Informationsschilder könnten auch helfen.

C: Was kann jede:r konkret tun, wenn er/sie sexuell belästigt wird oder wurde?

E: Nicht schweigen, das Tabu brechen und sich wirklich Unterstützung suchen. Und von all denen, die Zeug:innen eines Vorfalls werden, egal, ob im Bus, in der Kneipe oder im Seminar, braucht es Courage. Die Zeug:innen sollten immer Unterstützung anbieten. Für betroffene Personen kann das eine große Hilfe sein, wenn sie sich gesehen fühlen und wissen, sie sind nicht alleine.

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