Universität neu denken: was die Reformuniversität Konstanz anders machen wollte

Wie das Paradies erschien sie der Gründergeneration: Vor 52 Jahren ins Leben gerufen, unterscheidet sich die Reformuniversität Konstanz von traditionellen Hochschulen. Was die Bildungseinrichtung auf dem Gießberg anders macht und wie der Reformgedanke heute noch wirkt.

„Wir wollten das, was bisher nur auf dem Papier und in den Köpfen war, lebendig machen“, sagt Erhard Roy Wiehn über die Anfänge der Universität Konstanz. Der 81-Jährige ist emeritierter Professor im Fachbereich Geschichte und Soziologie. Als Assistent von Ralf Dahrendorf, einem der zehn Gründungsmitglieder der Universität Konstanz, hat er von Beginn an miterlebt, wie die Bildungseinrichtung auf dem Gießberg entsteht.

Das, was „auf dem Papier und in den Köpfen“ der ersten Konstanzer Professoren, Mitarbeiter und Studierenden war, ist damals vor allem eines: neu. Die Universität Konstanz wird als Reformuniversität gegründet und unterscheidet sich damit fundamental von traditionellen Hochschulen. Reicht die Geschichte der Universitäten in Heidelberg, Tübingen oder Freiburg über 500 Jahre zurück, beginnt die der Universität Konstanz vor gerade einmal 52 Jahren.

Ralf Dahrendorf (links) mit Erhard Wiehn (rechts) Im Jahr 1968 – Bild: Prof. Dr. Dr. Erhard Roy Wiehn

„Es war damals der unbedingte Wille da, die Dinge mal anders zu machen“, sagt Ulrich Rüdiger, ehemaliger Rektor der Universität Konstanz. Der Gründungsausschuss rund um den Vorsitzenden und ersten Universitätsrektor, Gerhard Hess, orientiert sich beim Entwurf der Grundordnung am US-amerikanischen Hochschulsystem. Besonders wichtig ist es den Mitgliedern, eine Universität mit flachen Hierarchien und einem offenen Miteinander zu schaffen.

Erhard Roy Wiehn, damals selbst noch Studierender und Assistent Dahrendorfs, erinnert sich, dass Studierende anfangs in allen Entscheidungsgremien vertreten sind: „Das war atemberaubend und ein völlig neues Erlebnis, mitbestimmen zu können.“ Professoren und Studierende, aber auch Vertreter der unterschiedlichen Disziplinen sollen sich austauschen und zusammenarbeiten. Kleine Fachbereiche treten an die Stelle von Instituten, eine Vielzahl an Seminarräumen ersetzt große Vorlesungssäle.

Durch kurze Wege ist alles schnell zu Fuß zu erreichen

Gemäß dem Motto „Kurze Wege, offene Türen“ wird auch gebaut: Die Gebäude der Universität befinden sich auf einem gemeinsamen Campus und sind nicht, wie beispielsweise in Freiburg, in der gesamten Stadt verteilt. „Verschiedene Disziplinen kommen zusammen, auf dem Campus trifft man sich“, so Rüdiger. Ein weiterer Vorteil sind die zentralen Verwaltungs- und Serviceeinrichtungen, wie die Universitätsbibliothek. Diese stellt in ihrer Konzeption ein absolutes Novum dar.

„Der damalige Leiter der Bibliothek, Joachim Stoltzenburg, dachte zusammen mit dem Gründungsrektor sehr intensiv nach, wie die Bibliothek idealerweise gestaltet werden sollte“, sagt Oliver Kohl-Frey, stellvertretender Direktor des Kommunikations-, Informations- und Medienzentrums (KIM) der Universität Konstanz. Auch bei diesen Überlegungen orientierte man sich an US-amerikanischen Konzepten, die Stoltzenburg von seinen Reisen mitbrachte.

Kurt Georg Kiesingers Schmierzettel (wie Titelbild): Die Geschichte der Universität Konstanz beginnt auf diesem Zettel. | Bildarchiv Universität Konstanz, Best. 1, I 5

Es entsteht ein Konzept, das bis heute aktuell ist. Als zentrale Einrichtung für Studierende aller Fachrichtungen deckt die Bibliothek die Informationsversorgung der gesamten Universität ab. „Es gibt keine gesonderten Instituts- oder Fachbereichsbibliotheken, wie das in traditionellen Unis der Fall ist“, erklärt Oliver Kohl-Frey, der stellvertretende Direktor des KIM, wie die Bibliothek heute heißt. Die Bücher sind von Beginn an frei zugänglich und müssen nicht über einen Zettelkatalog gesucht und per Formular bestellt werden. „Die Benutzer dürfen selbst ans Regal“, sagt Kohl-Frey.

Für Erhard Roy Wiehn, der vor seiner Konstanzer Zeit in Tübingen studierte, eine völlig neue Erfahrung. Der emeritierte Professor sieht die zentrale und inzwischen täglich 24 Stunden geöffnete Bibliothek als großen Vorteil an. Sie gehöre zu den Dingen, die sich aus dem Reformgedanken heraus bis heute erhalten haben – ebenso, wie die Nähe zu anderen Disziplinen. „Die Kollegen vom anderen Fach sind nur fünf Minuten entfernt“, so Wiehn, der auch heute noch täglich in seinem Arbeitszimmer in der Universität anzutreffen ist.

Der „Konstanzer Geist“ aus heutiger Sicht

Trotzdem, vieles habe sich mit der Zeit auch geändert, findet der 81-Jährige. Der „Konstanzer Geist“ sei nach über 50 Jahren nur noch in „homöopathischen Dosen“ anzutreffen. Als Wiehn vor 52 Jahren nach Konstanz kommt, ist dies ganz anders. Alles ist im Aufbau begriffen, bisherige Strukturen werden hinterfragt und die Universität auf völlig neue Art und Weise gegründet. „Dabei mitzuwirken, war ein besonderes Hochgefühl“, erinnert sich Wiehn, der unter anderem daran beteiligt ist, Studienordnungen auszuarbeiten. „Die Gründungsdenkschrift konnten wir damals auswendig.“

Fragt man Ulrich Rüdiger, ob der „Konstanzer Geist“ der ersten Jahre heute noch präsent ist, überlegt er einen Moment. Dann sagt er: „Der Gründungsgedanke ist immer noch da.“ Er habe sich mit der Zeit aber weiterentwickelt. „Die Gründergeneration arbeitete noch in ganz anderen, fast familiären Verhältnissen“, erklärt Rüdiger. Damals habe man die Meinung vertreten, wenn man in Konstanz angekommen ist, sei man im Paradies.

Erhard Wiehn heute – Bild: Prof. Dr. Dr. Erhard Roy Wiehn

Heute sei diese starke Identifikation mit den Universitäten in dieser Form nicht mehr gegeben. „Die Rahmenbedingungen haben sich geändert“, so Rüdiger. Wo man als Lehrender arbeite, hänge beispielsweise auch davon ab, in welcher Stadt der Partner beruflich tätig ist und wie die Wohnungssituation aussieht. Zum anderen habe sich auch die Universität selbst gewandelt. Wird Anfang der 1960er Jahre eine Hochschule für 3000 Studierende geplant, so hat sich diese Zahl mit inzwischen 11500 Studierenden fast verdreifacht.

Dass die Bildungseinrichtung am Bodensee so viele junge Menschen anzieht, mag auch ihrem Status als Elite-Uni geschuldet sein. Seit 2007 darf sich die Hochschule als Exzellenzuniversität bezeichnen, diesen September fällt im Rahmen der Exzellenzstrategie die Entscheidung, ob die Universität Konstanz erneut einen entsprechenden Antrag einreichen darf. Wird dieser bewilligt, fällt im Juli nächsten Jahren die finale Entscheidung, ob der Elite-Titel bestehen bleibt. „Wir unterliegen heute einem richtig harten Wettbewerb zwischen den Unis in Deutschland“, so Rüdiger. Gerade dieses Annehmen von Herausforderungen und das Selbstverständnis der Universität, innovativ zu sein, macht für ihn eine Reformuniversität im heutigen Zeitalter aus.

  • Dieser Artikel ist Teil einer Kooperation von Campuls und SÜDKURIER. Der SÜDKURIER ist ein regionales Medienhaus im Süden von Baden-Württemberg. Neben der Tageszeitung (gedruckt und als digitale Zeitung) betreibt das Haus auch SÜDKURIER Online. An der Kooperation waren Autoren aus der Lokalredaktion Konstanz beteiligt. Alle digitalen Storys der Lokalredaktion gibt es unter folgendem Link:

Das Kooperationsprojekt „Hochschulstadt Konstanz“ soll die Perspektiven von Lokalzeitung und Studi-Magazin vereinen. Mit vereinten Kräften wollen Campuls und der SÜDKURIER die Stadt Konstanz als vergleichsweise jungen Hochschulstandort beleuchten. Wie kamen Uni und HTWG nach Konstanz? Welchen Einfluss haben die Hochschulen auf die Stadt? Diesen und weiteren Fragen sind wir gemeinsam nachgegangen. Sie finden die Beiträge der Kooperation auf suedkurier.de und bei Campuls Online.

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