Ein Buch mit einem Versprechen
2016 veröffentlicht Benedict Wells seinen vierten Roman. Der Titel des Buches ist ein Versprechen: „Vom Ende der Einsamkeit“. Es klingt verlockend, ist Einsamkeit doch ein zunehmend aktuelles Problem. Seit 2018 führt Großbritannien ein eigenes Ministerium für Einsamkeit. In Japan gibt es den Begriff der „Hikkomori“, das sind erwachsene Menschen, die sich weigern, ihr Kinderzimmer zu verlassen und jeglichen Kontakt zu anderen Menschen vermeiden. Schätzungsweise gibt es eine Million Hikkomori allein in Japan.
Einsamkeit als gesamtgesellschaftliches Problem hat wohl viele Ursachen: Soziale Medien, Kontaktverzicht zur Pandemiebekämpfung, Mobbing in Schulen und am Arbeitsplatz. An sich ist Einsamkeit zeitlos, gleichwohl nimmt sie durch das Genannte an Aktualität zu. Kann ein Roman dieses Leid abwenden? Das scheint schwierig. Und doch ist es ja häufig die Literatur, die Denkanstöße liefern kann. Werfen wir also einen Blick auf den Inhalt. Dazu sei als Warnung gesagt: Wer das Buch noch gerne lesen möchte, sollte den nächsten Abschnitt womöglich überspringen, da andernfalls etwas vorweggenommen werden könnte.
Von Liebe und Tod
Die Geschichte handelt von drei Geschwistern. Eines von ihnen, Jules, ist die Hauptfigur, die als Ich-Erzähler auftritt. Nachdem die Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, werden die Kinder auf das gleiche Internat geschickt. Die Art, mit dem Verlust der Eltern umzugehen, unterscheidet sich grundlegend. Jules zieht sich in eine Traumwelt zurück, erfindet Geschichten. Seine Schwester, Liz, findet Zuflucht in einem wilden Liebesleben, aber auch in Drogen. Sein Bruder, Marty, macht große Karriere, entdeckt die Welt des Computers für sich, der zur Zeit der Erzählung noch Neuland ist. Doch auch dieser Erfolg scheint nur eine Flucht vor dem Tod der Eltern zu sein.
Auf dem Internat lernt der ansonsten weitgehend isolierte Jules seine Seelenverwandte kennen, Alva, in die er sich schließlich verliebt. Dennoch verliert sich der Kontakt. Erst viele Jahre später kommt es zu einem Treffen. Alva hat einen viel älteren Schriftsteller geheiratet, mit dem sie in der Schweiz wohnt. Als Jules sie besucht, bleibt er immer länger, bis er bei ihnen einzieht. Der Schriftsteller baut geistig ab, was in der Entscheidung zum Selbstmord endet. Alva und Jules kommen schließlich doch zusammen, haben gemeinsame Kinder.
Während alles perfekt scheint, die beiden durch das große Erbe des Schriftstellers auch finanziell abgesichert sind, ist es Krebs, der bei Alva diagnostiziert wird. Es folgt eine Periode voller Hoffnung, als der Krebs geheilt scheint, und dann ein großer Rückschlag, als er es doch nicht ist. Sehr ausführlich wird über den langen, unaufhaltsamen Weg gesprochen, zu dem auch gehört, wie sich Alva von ihren Kindern verabschiedet.
Nachdem sie gestorben ist, erleidet Jules einen schweren Motorradunfall, bei dem nicht klar ist, ob es ein Selbstmordversuch war. Dennoch ist es gerade das Ende, das deutlich macht, warum der Roman seinen Titel trägt: Trotz aller Verluste, die Jules erleiden muss, erkennt er es als seine Aufgabe an, sich um seine Kinder zu kümmern. Mit dieser Aufgabe gelingt es ihm, die Einsamkeit grundsätzlich für sich zu verneinen. Charakteristisch ist der letzte Satz des Buches, indem Jules sagt: „Ich bin bereit.“
Ein Roman, der Mut macht
Der Roman brachte Benedict Wells großen Erfolg ein. Dennis Scheck bezeichnet ihn als „besten John-Irving-Roman, der nicht von John Irving stammt“. 2016 wurde „Vom Ende der Einsamkeit“ mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. 100.000 Exemplare wurden im selben Jahr verkauft, das Buch stand 30 Wochen auf der Top 10 der Spiegel Bestsellerliste.
Auf den ersten Blick erscheint die Handlung traurig. Aber es ist auch ein Roman, der Mut macht. Jules beweist unglaubliche Stärke, indem er sich am Ende zum Leben bekennt. Und mehr noch: Er versucht nicht, die Schicksalsschläge zu verdrängen, sondern erkennt sie als Teil seines Lebens an. So gelingt es ihm schließlich, die Einsamkeit zu überwinden.
Von der Einsamkeit zum Alleinsein
Ein Ende der Einsamkeit, trotz Pandemie, trotz Krieg? Das ist wohl keine Selbstverständlichkeit. Benedict Wells zeigt einen Weg auf, wie es gelingen kann, durch Selbstfindung ein Narrativ zu schaffen, dass die negative Einsamkeit durch ein positives Alleinsein ersetzt. Corona hat viele von uns gezwungen, physisch allein zu sein. Ein Ende der Kontaktbeschränkung wird nicht automatisch alle Probleme lösen können, denn auch in Gesellschaft kann man sich einsam fühlen. So stellt Jules fest:
“Das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit.”
Es bei der Beschreibung einer ganz außergewöhnlichen Lebensleistung, auf die Art mit dem Tod umzugehen, wie es Jules gelingt. Die Gründe für Einsamkeit in der modernen Gesellschaft scheinen so unterschiedlich, so komplex, dass es wohl nicht immer gelingen kann, diesen Weg zu gehen. Darum geht es aber auch nicht, schließlich ist das Buch kein Lebensratgeber.
Hält der Titel sein Versprechen? Für Jules, ja. Für andere vielleicht insofern, als dass er Mut macht, sich mit der Thematik der Einsamkeit zu beschäftigen. Denn allein die Frage, welchen Anteil die Einsamkeit an der eigenen Biografie nimmt, kann schon ein großer Teil der Lösung sein.
In jedem Fall lohnt sich die Lektüre. Sie ist ein Denkanstoß für schwierige gesellschaftliche Fragen, aber viel mehr als das. Es ist eine außerordentliche Liebesgeschichte, die hier erzählt wird. Kritiker würden das Buch mitunter als kitschig bezeichnen, aber das kann bei diesem Roman als Lob verstanden werden. Taschentücher sollten nicht fehlen, denn beim Lesen ist es gut möglich, dass die eine oder andere Träne nicht zurückgehalten werden kann. Das allein ist Grund genug, dieses wundervolle Buch zu lesen. Vor allem ist es aber eines: Eine großartige Geschichte.
„Vom Ende der Einsamkeit“ ist 2016 im Diogenes Verlag erschienen, 368 Seiten, in Deutschland ist es für 22 Euro erhältlich.