Block und Stift

I’m still looking for a place to start…

Eine allerletzte Kolumne von Charlotte Krause

Immer, wenn man nicht weiß, wie man einen Text beginnen soll, startet man genau damit: Ich lasse euch, werte Leserinnen und Lesern, wissen, dass der blinkende Cursor im Word-Dokument mir inneres Grauen bereitet. Dabei schreibe ich normalerweise so gerne. Vielleicht musste ich in den vergangenen Monaten einfach zu oft Word öffnen und mich durch Absätze und Fußnoten quälen. Heute also, für meine allerletzte Campuls-Kolumne, öffne ich noch einmal das Dokument mit dem Titel „Krause-Charlotte_Masterarbeit“ und scrolle bis zur letzten Seite. Sechs Monate lang arbeitete ich daran, 137 Seiten, 60.241 Wörter und 370.567 Zeichen zu erschaffen – mit Titelblatt und Literaturverzeichnis.

Wie es sich anfühlt, nun so am Ende des Studiums mit einer Abschlussarbeit in der Hand, die mich viele Nächte und lauwarme Sommertage gekostet hat? Gar nicht mal so gut wie erwartet.

Diese mich täglich begleitenden Meilensteine – Zeile schreiben, Absatz formulieren, Kapitel abhaken – waren meine stetigen Begleiter. Nun liegt es an mir, mir ein neues Ziel zu suchen. Aber das Studienende … irgendetwas in mir spürt bereits jetzt das sich anbahnende Gefühl des Bedauerns. Nicht, weil ich meine Zeit an der Uni nicht genossen habe (dazu komme ich gleich) – stattdessen wächst in mir die Furcht, dass diese „beste aller Zeiten“ nun endgültig vorbei ist. Die Freiheit, zu lernen, was mich interessiert, mich mit Menschen umgeben zu dürfen, die ähnliche Ansichten teilen oder mit anderen zu streiten, deren Meinungen ich komplett absurd finde. Immer wieder an verschiedenen Orten kleine neue Heimaten finden zu dürfen und Kartons und Koffer aus- und wiedereinzupacken.

Werde ich noch einmal in meinem Leben derart ungebunden sein?

An den Einführungstag an der Uni Konstanz erinnere ich mich noch genau bzw. wohl eher an eine Rede, die eine ehemalige LKMlerin im großen Hörsaal hielt. Uns Erstis – sowohl angehende Bachelor- als auch Masterstudierende – wollte sie mit ihren Worten Mut machen. Und zwar nicht, indem sie nicht nur eine Lobeshymne nach der anderen auf das großartige Lehrangebot der Universität hielt, oder uns mit ihren Erfahrungen im Berufsleben langweilte. Stattdessen erzählte sie unverblümt davon, dass sie gleich die besten Freundinnen und Freunde in ihren ersten beiden Semestern gefunden habe. Glücklicherweise, wie sie uns erzählte – denn im dritten Semester hatte sie so schlimmen Liebeskummer, dass sie sich ein Urlaubssemester nehmen musste. Genau dieser Freundeskreis war in der schweren Zeit dann an ihrer Seite. Sie schwärmte von durchtanzten Nächten am See und Prüfungsangst, die ihr die Beine lähmte. Während ihres Vortrags wirkte sie dermaßen erfüllt auf mich, dass ich anschließend sehr gerührt aus dem Hörsaal lief und wusste: So möchte ich auch einmal von meinen Erfahrungen erzählen!

Und genau so ist es auch gekommen – mein Studium fühlt sich im Rückblick ein bisschen wie eine endlose, jedoch sehr unterhaltsame U-Bahn-Fahrt an.

Ich saß im Führerhäuschen und sah zu, wie an jeder einzelnen Station Passagier:innen ein- und wieder ausstiegen. Manch eine:r setzte sich gleich mit in meine Kabine und erzählte von sich. Viele wichtige Menschen sind bis heute nicht ausgestiegen. Andere verkrümelten sich nach ein paar Stationen und wollten lieber nochmal die Bahn wechseln. Manches davon war schmerzhaft, bei anderen Abschieden sah ich erleichtert hinterher. Meine Fahrt führte mich in unterschiedliche Landschaften, für meine Bücher brauche ich inzwischen einen eigenen Waggon. Darunter vieles, was ich selbst schreiben durfte, in Studi-Zeitungen, Blogs oder eben Haus- und Abschlussarbeiten.

In vielerlei Hinsicht habe ich mich im Studium sehr angestrengt – geplant, gelernt, gestolpert – allerdings war auch viel Glück dabei und überhaupt die Voraussetzung, so frei, wie ich es durfte, studieren zu können. Ich empfinde mich in dieser Hinsicht als privilegierte Person. Zwar bin ich der Meinung, dass inzwischen Wörter wie „Privilegien“ und „privilegiert“ inflationär häufig von weißen Mittelstandskindern à la Sophie Passmann benutzt werden. Da ich allerdings genau ein solches bin – auch noch mit Akademikereltern – kann und bin ich einfach nur dankbar für die Möglichkeiten, die mir durch mein Studium geboten wurden. Ich habe versucht, sie alle zu nutzen; habe in jeder HSG mitgemacht, die mich interessierte. Arbeitete als HiWine an unterschiedlichen Lehrstühlen, lebte zweimal im Ausland und in insgesamt fünf verschiedenen deutschen Städten für Praktika und Studium. Ich musste mir nie die quälende Frage stellen, wie ich das alles finanzieren soll, sondern wurde von verschiedenen Seiten diesbezüglich unterstützt. Ich hatte immer gute Freund:innen, war mehrmals verliebt und noch öfter enttäuscht von der Liebe, wobei meine Familie sowohl in den schönen, als auch schrecklichen Momenten immer für mich da war.

Vielleicht fühle ich deswegen gerade so etwas wie Bedauern. Ein Lebensabschnitt ist nun endgültig vorbei. Hinzu kommt die Furcht, für die Veränderungen, die ab nun vermehrt auf mich zukommen werden, nicht gewappnet zu sein: Wie genau funktioniert das jetzt mit der Steuererklärung? Wie bitte, ich muss mein eigenes Gehalt verhandeln? Und von Altersvorsorge will ich gar nicht erst anfangen … Gleichzeitig bin ich aber auch unendlich dankbar, so sehr in den vergangenen Jahren gewachsen sein zu dürfen. Ich wünsche allen, dass sie ebenfalls in dieser Form auf eigene lehrreiche Zeiten zurückblicken können. Das muss kein Studium sein.

Alle Schritte hin zu einem erfüllten Leben bezeichne ich als Wachstum, mit dem aber eben auch Wachstumsschmerzen einhergehen. Aber was nicht wächst, stirbt. Deswegen sollten wir lieber in unsere liebsten Gummistiefel schlüpfen und Gießkanne und Harke parat haben.

Beim Schreiben dieser Kolumne höre ich übrigens in Dauerschleife das Lied „A Place to Start“ von „White Denim“. Hört es am besten mit Kopfhörern, legt euch an den See oder auf eine Wiese eurer Wahl. Denn bei diesem Liebeslied spürt man meiner Meinung nach ganz genau, wie es sich anfühlt, einer ungewissen Zukunft entgegenzublicken; aber nicht voller Furcht, sondern in gespannter und leicht melancholischer Erwartung. I found a reason to live long ago. I’m still looking for a place to start …

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