Jüdisches Leben in Wien

Unsere Redakteurin Paula befindet sich momentan im Auslandssemester in Wien. Die Stadt zieht viele verschiedene Kulturen und Religionen an. Zwischen Erinnerungskultur und Zukunftsgestaltung spielt sich das jüdische Leben ab. Ein Bericht über jüdische Identität, Antisemitismusprävention und den Versuch eines Perspektivenwechsels.

Was das Judentum anbelangt, richtet sich die allgemeine mediale Aufmerksamkeit vor allem auf Shoah-Memorien oder Diskurse rund um Antisemitismus. Selten werden Themen abseits dieser Opferrolle zur Sprache gebracht, wie etwa jüdisches Gemeindeleben, Projekte für Kinder und Jugendliche oder Bildungsarbeit. Dabei könnte auch diese banale Art der Aufklärung implizit einen Beitrag dazu leisten, Antisemitismus entgegenzuwirken.

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Die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) beklagt, dass viele Menschen immer noch keine genaue Vorstellung vom jüdischen Leben haben. Um Vorurteile abzubauen und den Austausch zu fördern, werden daher unter anderem Synagogenrundgänge und Walking-Touren angeboten. Aber auch Feste diverser Einrichtungen und Vereine sollen einen Einblick in die jüdische Kultur geben. Was auf der Homepage der IKG vielversprechend klingt, kann in der Realität nicht so einfach umgesetzt werden. Die Erfahrung zeigt, dass besondere Sicherheitsvorkehrungen notwendig sind, damit jüdische Menschen ihr Judentum frei ausleben können, ohne Angst haben zu müssen. Daher werden alle Synagogen von teils bewaffneten Soldatinnen und Soldaten geschützt und auch in andere jüdische Institutionen kann man nicht einfach so hineinspazieren, ohne sich vorher angemeldet zu haben. Es kommt immer wieder zu antisemitischen Vorfällen, die die Notwendigkeit dieser Schutzmaßnahmen verdeutlichen.

Der Stadttempel ist heute die größte Synagoge Wiens.
Foto: Paula Zender

Vor dem Hintergrund der Shoah wird deutlich, weshalb es so schwer ist, als nichtjüdische Person mit jüdischen Menschen in Kontakt zu kommen. Der Nationalsozialismus dezimierte die jüdische Bevölkerung enorm. Während Jüdinnen und Juden in der Zwischenkriegszeit noch etwa 10 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung ausmachten, sind es aktuell kaum mehr als 0,4 Prozent. Zufällig jüdischen Menschen an der Uni, beim Sport oder in der Nachbarschaft über den Weg zu laufen, passiert also eher selten. Trotz des prozentual kleinen Anteils zählt die jüdische Gemeinde in Wien mit ihren 8.000 Mitgliedern zu den größten im deutschsprachigen Raum. Das jüdische Leben spielt sich besonders im zweiten Bezirk ab. Dort befand sich einst die sogenannte „Zweite jüdische Gemeinde“, die von Ferdinand II. zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus dem Stadtzentrum ausquartiert wurde. Das jüdische Gemeindeleben prosperierte, bevor sich der Antisemitismus zuspitzte und Kaiser Leopold I. im Jahr 1669 die Vertreibung der Jüdinnen und Juden von dort anordnete. Heute haben viele jüdische Institutionen, koschere Geschäfte und Synagogen ihren Weg in diesen Teil von Wien zurückgefunden, der paradoxerweise Leopoldstadt genannt wird.

Jude sein – jüdisch sein?

Andreas ist für sein Psychologiestudium nach Wien gekommen. Er gibt nebenher Synagogenführungen im Stadttempel. Auf die Frage, inwiefern das Judentum seine Identität bestimmt, entgegnet er: „Ich verstehe darunter mehr eine Volksgemeinschaft als eine Religion. Ich bin also Jude, ohne besonders jüdisch im religiösen Sinne zu sein.“ Im Judentum wird man nach halachischem Recht jüdisch geboren. Das bedeutet, dass die Identität der Mutter darüber entscheidet, ob man dem Judentum angehört oder nicht. Diese Definition sorgt bisweilen jedoch für Diskussionen. So gibt es liberale Meinungen, die die Patrilinearität als gleichberechtigt für das Jüdisch sein betrachten.

Je nach geographischer und genealogischer Herkunft verfügen jüdische Menschen über verschiedene kulturelle Hintergründe. Andreas‘ Familie kommt aus der Ukraine, er gehört beispielsweise zu den aschkenasischen Juden. Diese Einteilung hängt nicht mit der Glaubenspraxis zusammen, die individuell ausgelebt werden kann und von orthodoxen über konservative bis hin zu liberalen Lebensformen reicht. Obwohl in Serien wie „Unorthodox“ oder Dokumentationen über Jüdinnen und Juden in Israel, den USA und anderswo gerne Extrembeispiele propagiert werden, stellt das Judentum eine in sich sehr diverse Gesellschaft dar, die doch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl prägt.

Jüdische Netzwerke enden nicht bei Sprachbarrieren oder Ländergrenzen. Bei einem Shabbes-Dinner der Jüdischen Österreichischen Hochschüler:Innen wird deutlich, dass die Lebensstationen der meisten Jüdinnen und Juden mehr als ein Land betreffen.
Ist Heimat der Ort, an dem man geboren wurde, die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat oder sich am sichersten fühlt? Eine schwierige Frage, besonders vor dem Fluchthintergrund der großelterlichen Generation. An dieser Stelle ist besondere Sprachsensibilität wichtig. Denn während in der globalisierten Welt das Unterwegssein als selbstverständlich und erstrebenswert gilt, kann die oft unfreiwillige Mobilität jüdischer Menschen im antisemitischen Stereotyp des „Kosmopoliten Juden“ missbraucht werden. Im Vergleich zu anderen Hochschulgruppen ist der politische Aktivismus der JöH auffällig, der sich unter anderem in der jüdischen Studierendenzeitschrift Noodnik widerspiegelt. Viele Artikel drehen sich um Identitätsfragen, die Erinnerungskultur und den Kampf gegen Antisemitismus.

„Wir sind hier, wir sind nicht einverstanden, und wenn wir nicht gehört werden, werden wir laut.“

#gegenantisemitismus

Aus den Aufzeichnungen der Antisemitismus-Meldestelle geht hervor, dass die antisemitischen Vorfälle während der Corona-Pandemie wieder angestiegen sind. Obwohl im ersten Halbjahr 2022 insgesamt weniger Vorfälle als im Vorjahreszeitraum erfasst wurden, bleiben coronabezogener Antisemitismus, Shoah-Relativierungen und antisemitische Verschwörungsmythen weiterhin ernstzunehmende Bedrohungen.

Zudem steht bis heute die umstrittene Statue des Hitleridols Karl Lueger im ersten Bezirk. Zwar verweisen Schande-Graffitis auf die antisemitische Vergangenheit dieser Persönlichkeit, jedoch scheiterten bis zuletzt alle Bemühungen, die Statue des Herren abzumontieren.

Die umstrittene Statue des Karl Lueger in Wien.
Foto: Paula Zender

Trotz der Missstände gibt es zahlreiche Bemühungen, die Bildungs- und Aufklärungsarbeit zukunftsorientiert zu gestalten. Die Organisation Likrat bildet zum Beispiel jüdische Jugendliche aus, um an Schulen in einen offenen Dialog mit nichtjüdischen Schülerinnen und Schülern zu treten. Zudem bieten die jüdischen Museen in Wien Rundgänge, Vorträge und Workshops an, die neben der Aufarbeitung der Vergangenheit eine Brücke zur Gegenwart schlagen. Der Studiengang Judaistik an der Universität Wien stellt sich ebenfalls zur Aufgabe, mithilfe der Wissenschaft Antisemitismus zu bekämpfen. Da die Ressourcen der jüdischen Institutionen jedoch begrenzt sind, spielt die mediale Aufklärung von staatlicher Seite eine zentrale Rolle. Ein Ansatzpunkt wäre zum Beispiel, die großen Schlagzeilen nicht nur am 27. Januar und 9. November mit jüdischem Inhalt zu füllen, sondern mehr Medienpräsenz für alltäglichere und positivere Dinge zu schaffen. Das historische Erbe weiterführen bedeutet nämlich nicht, den Blick auf das Hier und Jetzt zu verschließen.

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