Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – oder doch? Ein Kommentar zur Trennung von Kunst und Künstler:in

Transfeindliche Kommentare von J. K. Rowling, die Verhaftung von Materia, Vergewaltigungsanschuldigungen bei Rammstein: Die Liste ist lang. Immer wieder geraten Künstler:innen in Verruf. Können wir als Publikum trotzdem ihre Kunst konsumieren, obwohl wir Taten der Erschaffer:innen verurteilen? Inwiefern lassen sich Kunst und Künstler:in trennen?

Triggerwarnung: Queerfeindlichkeit, sexuelle Übergriffe, Gewalt

Mit den Harry Potter-Büchern hat Joanne K. Rowling die Welt bewegt. Über 500 Millionen verkaufte Exemplare haben sie zu einer der bekanntesten Autorinnen der Welt gemacht. Doch mit großer Reichweite kommt auch große Verantwortung. Und diese scheint vor drei Jahren eine negative Wendung genommen zu haben. Im Juni 2020 brechen viele Herzen: J. K. Rowling postet auf Twitter einen transphoben Kommentar, der eine große Debatte aufleben lässt: Wenn ich die Autorin für die einen Worte verurteile, darf ich die anderen noch zelebrieren?
Doch fangen wir einmal von vorne an.

Der Tweet von J.K. Rowling ließ viele Harry Potter Fans aufhorchen und regte eine Debatte um die Trennung von Autor:innen und ihren Werken an.

Was ist eigentlich Kunst?

Kunst liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Kunst wird zu Kunst, wenn sie als solche betrachtet wird. Künstler:innen setzen das Ergebnis ihres kreativen Prozesses in die Welt – und was danach damit geschieht, liegt bei den Menschen, die die Kunst konsumieren. Man kann noch so viel Intention in ein Bild stecken – wie es interpretiert wird, liegt meist nicht in der eigenen Hand.

Doch das heißt immer noch nicht, dass die eigene Intention nicht richtungsweisend sein kann, oder keine Rolle spielt. Auch wenn man nicht kontrollieren kann, was Menschen aus Kunst machen: Man ist verantwortlich für das Werk, das man produziert hat.

Wie viel Verbindung gibt es zwischen Kunstschaffenden und deren Werken?

Wann lohnt es sich denn überhaupt diese getrennt zu betrachten?
Während Harry Potter mit dem Grundkonflikt um J. K. Rowling recht wenig zu tun hat, gibt es auch Werke, die geradezu ein Abbild des jeweiligen Problems darstellen.

Ein aktuelles Beispiel: Till Lindemann.
Lindemann und seine Band sind dafür bekannt, zu provozieren. Anstößige Texte gehören ebenso zu ihrer Musik wie die extravaganten Shows, die tausende Besucher anziehen. Es scheint jedoch nicht verwunderlich, dass gerade jetzt verstärkt Aufmerksamkeit auf Lindemanns kreative Ergüsse gerichtet wird. Zwischen Pornos mit frauenverachtendem Inhalt und Gedichten über Vergewaltigungsfantasien wirken diverse Anschuldigungen sexueller Übergriffe jedenfalls nicht völlig abwegig.

Kunstfreiheit und Verwechslungsgefahr

„Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst / Wenn du dich überhaupt nicht regst“, und weiter: „Und genau so soll das sein (so soll das sein so macht das Spaß) / etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen.“

Auszug eines Gedichts von Til Lindemann

Der Gedichtband „100 Gedichte“ von Lindemann wurde 2020 vom KiWi-Verlag veröffentlicht. Auch vor den aktuellen Ermittlungen war es wirklich fraglich, weshalb ein Verlag dieser Form von Kunst überhaupt eine Plattform bieten wollte. Denn die Worte blieben die gleichen, nur die Diskussion um Lindemann veränderte sich. Was jetzt problematisch ist, war auch schon 2020 bei Veröffentlichung des Gedichtbandes problematisch. Doch für die Verleger:innen steht vor allem eins im Vordergrund: Profit. Während vor den Anschuldigungen gegenüber Lindemann noch Geld aus der Kontroverse geschöpft werden konnte, sieht die Situation heute anders aus. Ein kritischer Diskurs nutzt dem Verlag, ein kompletter Boykott nicht. Für den Verlag war anfangs klar: Man habe Literatur nicht korrekt verstanden. Die Kritik an Lindemanns Gedicht „Wenn du schläfst“ basiere auf „einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten ‚lyrischen Ich‘ mit dem Autor Till Lindemann“, heißt es in einer Stellungnahme des KiWi-Verlags. Die Kunstfreiheit sei hinfällig, wenn hier nicht ausreichend differenziert würde. Es sei außerdem eine Selbstverständlichkeit, dass „der im Gedicht dargestellte Vorgang unter moralischen Gesichtspunkten zutiefst verwerflich ist.“ Demnach sei der Autor selbst nicht persönlich dafür zu kritisieren.

Dennoch scheint den meisten Literaturkritiker:innen sich diese Selbstverständlichkeit nicht gänzlich zu erschließen. Im Gegenteil, ein date rape (also eine Vergewaltigung nach ursprünglich einvernehmlicher Kontaktaufnahme) sei hier ästhetisiert worden. Schockieren um jeden Preis – „Lindemann schreibt mit permanent ausgestrecktem Mittelfinger“, kritisiert Professor Stefan Höppner von der Universität Freiburg. Und genau darauf setzt Lindemann seit jeher. Gerade in Zeiten von „MeToo“ ist mit Vergewaltigungsfantasien anzuecken, besonders radikal und kontrovers. Adjektive, mit denen Till Lindemann gerne in Verbindung gebracht wird. Aber zu welchem Preis?

„Ja, Künstler:innen dürfen in deren Gedichten schreiben, was sie wollen. Das heißt jedoch nicht, dass sie keine Verantwortung für den Inhalt tragen. Traumatische Erfahrungen aus der Tätersicht zu beschreiben, ist ein Schlag ins Gesicht für jede Person, die schon auf der anderen Seite der Geschichte stand.“

Marie-Louis Kindsvater

Die Sache mit dem Konsum

„Wenn ich gerne Lieder von Rammstein höre, muss ich doch nicht gleich Fan der Band sein.“
Diese Aussage ist grundsätzlich richtig. Allerdings müssen wir uns als Konsument:innen dessen bewusst sein, welche Rolle wir spielen. Denn nur Kunst, die konsumiert wird, ist profitabel. Ein Bild bringt nur Geld ein, wenn es verkauft wird. Ein Buch nur, wenn es gelesen wird und Lieder nur, wenn sie gehört werden. J. K. Rowling bekommt Geld dafür, wenn wir uns den 230. Teil von Fantastische Tierwesen anschauen, Till Lindemann bekommt Geld, wenn wir Rammstein-Konzerte besuchen. Durch den Konsum von Kunst fördert man im Regelfall automatisch auch die Person dahinter.

Jedoch ist Konsum nicht gleich Konsum. Während Rowling durch jedes neu gekaufte Buch profitiert, sieht das bei Büchern aus zweiter Hand anders aus. Auch Rammstein erhält deutlich mehr Geld durch ein verkauftes Konzertticket als durch einen Stream auf Spotify. Die Plattform zahlt Interpret:innen nämlich etwa 34 Cent für 100 Streams. Das entspricht etwa 0,34 Cent pro Stream. Reich macht man Musiker:innen durch einmal anhören also nicht.

Was tun?

Wenn Künstler:innen in der Kritik stehen, lohnt es sicherlich in jedem Fall zu reflektieren, wem wir eine Plattform bieten. Denn obwohl Kunst nie wirklich mit der Person dahinter gleichzusetzen ist, gehören sie doch unweigerlich zueinander. Kein Harry Potter ohne J. K. Rowling, kein „Du hast“ ohne Till Lindemann.

Die Verantwortung liegt jedoch nicht nur bei den Künstler:innen. Denn du kannst entscheiden, was du dir ansiehst, liest und anhörst. Damit bist du auch in der Verantwortung, dich zu informieren, wen oder was du unterstützt. Kritische Auseinandersetzung heißt nicht gleich etwas oder jemanden zu boykottieren.

Bilde dir selbst deine Meinung. Denn Kunst ist, was du daraus machst. Einen Teil der Verantwortung tragen wir alle.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Related Posts
Lesen

IANI und Mona Ida: Musikalische Talente aus der Bodenseeregion

Campuls trifft die 25-jährige Janina, wie „IANI“ mit bürgerlichem Namen heißt, virtuell für ein Interview, in dem unter anderem die Themen Frauen in der Musikindustrie, der Prozess der Musikproduktion, sowie ihre erste veröffentlichte EP angesprochen werden. Privat hat Janina gerade ihre Abschlussarbeit im Studiengang Innenarchitektur eingereicht und freut sich sehr, neue Projekte in Angriff nehmen zu können.
fahrendes Auto
Lesen

Ist Konstanz wirklich „Auf dem Weg zur autofreien Innenstadt“?

Grüne Linien mit Fahrrad- und Bussymbolen zeichnen den Verlauf von Laube, Rheinsteig, Bodanstraße und den Bahnhofsplatz ein. Mit „Verkehrssystem autofreie Innenstadt“ ist die Grafik aus dem Konstanzer Amtsblatt untertitelt. Rote Linien und Autosymbole gibt es nur noch in Petershausen, auf der Schänzlebrücke und ihrer Verlängerung, der Europastraße.